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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2

Er fuhr aber nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt am Main. Dort weilte er mehrere Tage, fragte den Hotelportier, wo es schöne Weiber gebe und bestellte sich bei einem Friseur einen falschen Bart und eine Perücke. Inzwischen besuchte er in Gesellschaft von Halbweltdamen Theater, Konzerte und Zirkus und lebte in Saus und Braus. Nach Fertigstellung des Bartes und der Perücke reiste er nach Baden-Baden. Am Spätnachmittag des 6. November 1906 klingelte es in der Villa Molitor am Telephon. Ein Dienstmädchen fragte, wer da sei. „Hier Postvorsteher Graf" war die Antwort. „Ich lasse die Frau Medizinalrätin bitten, sofort nach dem Postamt zu kommen, das Aufgabeformular der gefälschten Depesche hat sich gefunden." Die alte Medizinalrätin ließ dem Postvorsteher sagen: sie werde am Vormittag des folgenden Tages zur Post kommen, sie sei erkältet und wolle deshalb bei dem unwirschen Wetter in so später Abendstunde nicht noch einmal ausgehen. „Es ist aber dringend notwendig, daß die Frau Medizinalrätin noch heute und zwar möglichst sofort kommt," wurde zur Antwort gegeben. Darauf kleidete sich die Medizinalrätin an. Ihre Tochter Olga war bei einer benachbarten Familie zum Tee. Um nicht allein über die dunkle Promenade zu gehen, holte die alte Dame ihre Tochter ab. Als beide Damen die Lindenstaffel passierten, krachte plötzlich ein Schuß. Er traf die alte Medizinalrätin in den Rücken und durchbohrte ihr das Herz. Die alte Dame fiel lautlos zur Erde, sie war sofort tot. Eine Anzahl Leute hatten Professor Dr. Hau an diesem Tage mit falschem Bart und Perücke in Baden-Baden gesehen. Dieser Mann war nach der Ermordung der Medizinalrätin spurlos verschwunden. Es wurde sofort festgestellt, daß weder das Aufgabeformular der gefälschten Depesche gefunden worden sei, noch daß Postvorsteher Graf die Medizinalrätin nach dem Postamt bestellt hatte. Das Mädchen, das am Telephon gesprochen, behauptete mit vollster Bestimmtheit: Sie habe am Telephon genau die Stimme des Professors Dr. Hau erkannt. Da man wußte, daß

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_2_(1911).djvu/13&oldid=- (Version vom 31.7.2018)