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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5

aber in deren Zöpfe, wenn sie blond sind, geradezu sterblich verliebt. Zöpfe aus schwarzen Haaren verschmähe er. Dieser unwiderstehliche Drang habe ihn veranlaßt, mit einer scharfen Schere durch die belebtesten Straßen Berlins zu gehen und jungen Mädchen mit blonden Haaren in unbeobachteten Augenblicken die Zöpfe abzuschneiden. Eines Tages befand sich der Angeklagte in der Leipzigerstraße. Vor ihm ging ein junges Mädchen mit prachtvollen hellblonden Zöpfen. Die noch sehr jugendliche Dame, Tochter eines aktiven Garde-Oberst blieb mit ihren Eltern vor einem Schaufenster stehen. Der Augenblick ist günstig, dachte der Student. Ein Ruck mit der Schere und die prächtigen Zöpfe des jungen Mädchens waren in der Hand des Studenten. In demselben Augenblick hatte aber der Oberst den kühnen Zopfabschneider am Kragen. Der junge Mann, der einige Entschuldigungsworte stammelte, wurde einem Schutzmann übergeben, das junge Mädchen aber erlitt einen Nervenchok. In der Wohnung des Zopfabschneiders fand man eine ganze Kollektion abgeschnittener blonder Zöpfe. „Wollten Sie die Zöpfe veräußern?“ fragte in der Strafkammerverhandlung der Vorsitzende den Angeklagten. „Keineswegs,“ antwortete der junge Mann. „Ich empfand ein wollüstiges Behagen durch den bloßen Anblick, noch mehr aber durch die Berührung der Zöpfe.“ Der Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Leppmann, der den Angeklagten beobachtet hatte, teilte mit: Es gebe Zopfabschneider, die ausschließlich schwarze, aber auch solche, die nur alten Frauen weiße Zöpfe abschneiden. Obwohl gerade weiße Zöpfe wegen ihrer Seltenheit sehr teuer seien, pflegen die Zopfabschneider die Zöpfe nicht zu veräußern, sondern sie zwecks Wollusterregung aufzubewahren. Medizinalrat Dr. Leppmann erklärte: Der Angeklagte befinde sich in einer Geistesverfassung, daß er die Überzeugung gewonnen habe, der Angeklagte habe in einem unwiderstehlichen Drange gehandelt und sei für seine Taten nicht verantwortlich zu machen. Der Gerichtshof

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 5. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_5_(1912).djvu/257&oldid=- (Version vom 1.8.2018)