Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6 | |
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aus Merker einen tüchtigen Menschen zu machen. Ich glaubte nicht, daß er ein unverbesserlich leichtsinniger Mensch war. Er bekam also von uns das Geld, und von jetzt ab wurde der Verkehr intimer, ich nahm ihn wiederholt mit auf mein Zimmer. Um diese Zeit hörte ich, daß Merker auch andere Verhältnisse hatte. Es gab Szenen und Auftritte, in deren Verlauf Merker hartnäckig leugnete. Aber ich blieb mißtrauisch. Am 15. Februar 1906 lernte ich auf dem Ingenieurball in Chemnitz Preßler kennen. Er war mein Tischherr, und wenn ich mich auch nicht gleich zu ihm hingezogen fühlte, so interessierte er mich doch. Es folgte ein längerer Briefwechsel, schließlich lud er mich ein, ihn in Chemnitz zu besuchen. Wir gingen ins Theater. Für den andern Tag war Preßler zu Mittag geladen, er sagte, daß er durchaus ernstliche Absichten habe, ich wollte mich aber nicht gleich binden. Als er mir vor dem Essen auf dem Flur das Jackett hielt, versuchte er, mich an sich zu ziehen. „So schnell auf keinen Fall!“ sagte ich. Beim Essen faßte er plötzlich meine Hand mit den Worten: „Wir beide müssen zusammenbleiben.“ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Dieser Händedruck war eigentlich die ganze Liebeserklärung Preßlers. Ich mochte ihn auch ganz gern leiden, wenn ich ihn auch noch nicht lieben konnte. Ich empfand es gewissermaßen als eine Genugtuung, daß ein Mann von der Stellung Preßlers sich für mich interessierte. Dann aber glaubte ich auch im Sinne meiner Mutter zu handeln, der Merker nicht genügt hatte und der Preßler genügen mußte. Schließlich sagte ich mir, daß ich durch die Verlobung mit Preßler dem Merker einen empfindlichen Schlag versetzen könnte. Ich konnte ihm beweisen, daß ich nicht auf ihn angewiesen war. Deshalb habe ich mich mit ihm verlobt. Ich war zwar nicht sehr glücklich, aber ich dachte, daß sich das schon geben würde. Preßler hatte sogar schon den Tag der Hochzeit festgesetzt, er hatte die Ringe gekauft. Je näher aber ich ihn kennen lernte, desto mehr erfuhr ich,
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/300&oldid=- (Version vom 31.7.2018)