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Seite:Friedlaender-Interessante Kriminal-Prozesse-Band 6 (1912).djvu/299

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6

sehr gut, aber meine Mutter wies meine Zärtlichkeiten zurück. Als ich sie einmal umarmen wollte, stieß sie mich von sich. Bettelarm kam ich mir immer vor, wenn ich sah, wie andere Mädchen mit ihren Müttern verkehrten. Unter diesen Umständen hatte ich mehr wie Andere Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit. Ich fühlte mich allein auf der Welt und freute mich daher, in Öhlsner einen Menschen gefunden zu haben, dem ich mich anschließen konnte. Es war ein schönes, rein ideales Verhältnis; jedoch die Mutter war dagegen, denn ihr genügte der junge Mensch nicht. Ich aber fand ihn sehr lieb und konnte nicht von ihm lassen. Wir setzten daher unsern Verkehr heimlich fort. Im Laufe der Zeit nahm das Verhältnis einen intimeren Charakter an, ich konnte ihn nicht abweisen. Durch Mißverständnisse kamen wir auseinander. Am 25. Februar 1905 lernte ich auf einem Maskenball des kaufmännischen Vereins in Freiberg Merker kennen. Es war sozusagen eine Liebe auf den ersten Blick, denn wir fanden sofort Gefallen aneinander. Schon am 9. März desselben Jahres verlobten wir uns heimlich. Er wußte so schön zu erzählen. Neben der Liebe zog mich Mitleid zu diesem Mann, der allein auf der Welt stand. Es war eine sehr glückliche Zeit, die ich mit ihm verlebte, auch ein schönes ideales Verhältnis. Da erfuhr ich von Unterschlagungen, die er im Geschäft begangen hatte. Kniefällig bat er meinen Vater, ihn zu retten, aber ich war dagegen. An einem Sonntag Morgen kam er wieder: „Nur Sie können mir helfen!“ sagte er zu meinem Vater. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern ging in die Kirche. Ich bin überhaupt – wenigstens war es früher so – sehr religiös veranlagt, ich bin nicht so ruchlos, wie ich jetzt erscheinen mag. In der Kirche sprach der Pfarrer über das Thema vom verlorenen Sohn. Er legte nahe, daß wir nicht das Recht hätten, über die Menschen zu richten, und daß wir einem, der gestrauchelt sei, helfen müßten. Die Rede machte tiefen Eindruck auf mich. Ich faßte den Entschluß,

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/299&oldid=- (Version vom 31.7.2018)