Hugo Friedländer: Kulturhistorische Kriminal-Prozesse der letzten vierzig Jahre, Band 1 | |
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des Vorsitzenden: Er habe in der Mühle gearbeitet. Da sei ein Bekannter in die Mühle gekommen und habe ihn gebeten, ihm eine Metze Hafer zu verkaufen. Er habe sich anfänglich geweigert, seinen Meister zu bestehlen, er sei aber schließlich der Versuchung erlegen. Nachdem der Mann fort war, habe er Angst bekommen, der Meister könnte den Diebstahl merken. Deshalb habe er die Mühle in Brand gesetzt, sich einen Knebel in den Mund gesteckt und sich die Hände auf den Rücken gebunden; er verstände sich selbst zu fesseln, weil er, ehe er zu dem Müllermeister in die Lehre gekommen sei, kurze Zeit „Posamentier“ gelernt habe. Da er aber doch vor dem Feuertode Angst bekam, habe er sich an die Tür geschleift und sich zur Erde fallen lassen. Auf die Frage, wie er denn dazu kam, gerade den Schrader zu bezichtigen, gab er an, als der Bürgermeister ihn nach dem Täter gefragt habe, sei ihm gerade der Mühlknappe Schrader eingefallen.
Als Schrader im Saale als Zeuge erschien, wandte sich der Angeklagte, wie von einer Tarantel gestochen, ab und weinte bitterlich. Dann fiel er auf die Knie und rief laut: „Herr Schrader, ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ich habe mich allerdings zu schwer gegen Sie vergangen, ich weiß, Sie können mir nicht verzeihen.“ Schrader, ein kleiner, schwächlicher Mann, weinte ebenfalls und beteuerte nochmals seine Unschuld. Günther, der zur Zeit der Tat 15 Jahre alt war, wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Verfasser dieses Berichts nahm Gelegenheit, mit dem unglücklichen Schrader zu sprechen.
Hugo Friedländer: Kulturhistorische Kriminal-Prozesse der letzten vierzig Jahre, Band 1. Continent, Berlin 1908, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Kulturhistorische_Kriminal-Prozesse-Band_1_(1908).djvu/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)