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Die Wachsamkeit.

Nicht, daß ichs schon ergriffen hätte;
Die beste Tugend bleibt noch schwach;
Doch, daß ich meine Seele rette,
Jag ich dem Kleinod eifrig nach.

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Denn Tugend ohne Wachsamkeit

Verliert sich bald in Sicherheit.

     So lang ich hier im Leibe walle,
Bin ich ein Kind, das strauchelnd geht.
Der sehe zu, daß er nicht falle,

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Der, wenn sein Nächster fällt, noch steht.

Auch die bekämpfte böse Lust
Stirbt niemals ganz in unsrer Brust.

     Nicht jede Besserung ist Tugend;
Oft ist sie nur das Werk der Zeit.

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Die wilde Hitze roher Jugend

Wird mit den Jahren Sittsamkeit;
Und was Natur und Zeit gethan,
Sieht unser Stolz für Tugend an.

     Oft ist die Aendrung deiner Seelen

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Ein Tausch der Triebe der Natur.

Du fühlst, wie Stolz und Ruhmsucht quälen,
Und dämpfst sie; doch du wechselst nur;
Dein Herz fühlt einen andern Reiz,
Dein Stolz wird Wollust, oder Geiz.

Empfohlene Zitierweise:
Christian Fürchtegott Gellert: Geistliche Oden und Lieder. in der Weidmannischen Handlung, Leipzig 1757, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geistliche_Oden_und_Lieder-Gellert.djvu/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)