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sondern sein Gruss ist würdevoll und nicht ohne einen Anflug von ritterlicher Höflichkeit. Auch weiss er in Worten seiner Höflichkeit Ausdruck zu geben und nicht selten ist seine von Artigkeiten strotzende Rede eines zivilisierten Salonmenschen würdig. Dabei besitzt er viel Empfänglichkeit für die Poesie, bedient sich stets einer blumenreichen, etwas überschwänglichen Sprache und ist ein Freund lyrischer und epischer Dichtung. Daher ist auch die georgische Poesie ein Gemeingut für Alle, denn Gedichte, die heute zum erstenmale in den Salons deklamirt werden, klingen in wenigen Tagen schon im Munde des Volkes.

Was die gegenseitigen Verhältnisse zwischen Gutsbesitzern und Bauern anbetrifft, so sind diese in Georgien ziemlich freundschaftlich und oft bezeigen die Dienstboten grosse Anhänglichkeit an ihre Arbeitsgeber, denen sie nicht selten mit aufrichtiger Aufopferung in Gefahren beistehen. Trotz dieser Treue, die der georgische Bauer im Dienste an den Tag legt, dient er doch nur, wenn es die Notwendigkeit erheischt und liebt über Alles seine Unabhängigkeit. Noch weniger Neigung zum Dienen besitzt die georgische Bäuerin, die sich überhaupt sehr wenig mit schwerer Arbeit befasst und nie sah ich eine Georgierin im Felde arbeiten. Im Hause verrichtet sie gleichfalls nur leichtere Handarbeiten, beschäftigt sich aber fast ausschliesslich mit der Erziehung der Kinder. Bei solchen Umständen ist natürlich auch die Stellung der georgischen Bäuerin von der ihrer Standesgenossinnen in Osteuropa sehr verschieden, denn seitens der Männer geniesst sie eine achtungsvolle Behandlung und versteht es auch sich dieser würdig zu zeigen; grösstenteils ist sie ernsthaft, was mit ihrer Schwerfälligkeit vortrefflich harmonisiert.

Die Trägheit hat im Oriente immer einen Anflug von Ernst, während jede Thätigkeit eine nervöse Hast kennzeichnet.



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Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/76&oldid=- (Version vom 1.8.2018)