Seite:Georgien. Natur, Sitten und Bewohner.pdf/98

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Nachbarn waren die Georgier im zwölften Jahrhundert fürchterlicher als je, denn teils übertrafen sie sie durch ihre höhere Kultur, teils waren sie ihnen an Mut, Begeisterung, Vaterlandsliebe und Kriegszucht überlegen. Trotzdem aber scheint die rohe Jugendkraft dieses Volkes damals schon im Abnehmen begriffen gewesen zu sein, denn immer mehr entwickelte sich das innere Kulturleben, immer mehr griff die Sucht nach einem bequemen Verweilen am häuslichen Herde um sich und mit dieser der Vergnügungsgeist. Glückliche Kriege und die fortwährende Zufuhr reicher im Felde gemachter Beute, sowie die Befestigung der inneren Sicherheit erhöhten natürlicher Weise den Wohlstand des Landes und mit dem Wohlstande machte auch die materielle Kultur bedeutende Fortschritte. Städte blühten empor, zahlreiche Kirchen, Klöster und Schlösser entstanden und die nationale Architektur erreichte bei diesem bewegten Treiben einen Höhepunkt, den sie in der Folge nicht mehr überschritten zu haben scheint. Mit dem materiellen Wohlstande entwickelte sich auch der Luxus, und so entstand ein geräuschvolles, fröhliches Ritterleben, dessen glänzender Mittelpunkt der Hof der schönen Königin Tamara war.

Auch hatten sich die Sitten der Georgier schon bedeutend gemildert und die Sittlichkeit stand wohl in den vergangenen Jahrhunderten nie in ihrem Lande höher als zu dieser Herrscherin Zeiten, deren mildernder Einfluss sich in allen Erscheinungen des damaligen Lebens wahrnehmen lässt. Sie war eine sanfte, fromme Frau, die jede Gewaltthat verabscheute und daher mag wohl auch an ihrem Hofe Zucht und Sitte gewaltet haben, wenn auch den damaligen Anschauungen gemäss das Leben geräuschvoll, prunkhaft und vor allem genussreich war. In den Ritterkreisen waltete Galanterie, schönen Frauen wurden Huldigungen dargebracht und in Minneliedern ihre Reize besungen.

Empfohlene Zitierweise:
Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/98&oldid=- (Version vom 1.8.2018)