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zusammengeraffter und schlecht verstandener Stellen aus Aristoteles und der Bibel, die zur Zeit herrschende Roheit und Schamlosigkeit der Sitten, wenn auch mit einem geistlichen Gewande umhüllt, waren in diesen Briefen so treffend nach dem Leben geschildert, daß jedermann die Originale zu erkennen glaubte. Die Bettelmönche in England jubelten im guten Glauben, eine Schrift zu ihren Gunsten und gegen Reuchlin in Händen zu haben, und in Brabant kaufte ein Dominikanerprior eine Anzahl von Exemplaren zusammen, um seinen Obern ein Geschenk damit zu machen. Erst der letzte Brief des zweiten Teils, der aus dem Ton der Ironie in den der Invektive fällt, öffnete den guten Leuten die Augen.[1] Männer wie Thomas Morus dagegen äußerten ihr Entzücken über die Briefe; Erasmus hatte eine solche Freude über den ersten Teil und las ihn unter Freunden so oft vor, daß er ihn beinahe auswendig wußte. Ja selbst am päpstlichen Hofe war man längere Zeit ehrlich und geistreich genug, das Treffende dieser Satire anzuerkennen. Luther dagegen, dem freilich jeder Sinn für Humor fehlte, fand die Angriffe übertrieben und nannte sie sogar albern.[2]

Übrigens beschränkte sich die litterarische Bewegung im Reuchlin-Streite nicht auf diese hervorragende Leistung. Die publizistischen Waffen hieben überall schneidig und wuchtig darein. Die zahlreichen Schriften zur Verherrlichung Reuchlins und die auch der Zahl nach unbedeutendern Gegenschriften der Kölner beweisen, wie mächtig dieser Streit namentlich von 1512 bis 1517 alle Kreise ergriffen hatte und wie tief er in weitere, nicht bloß gelehrte Kreise eingedrungen war. Böcking führt 44 Schriften an, welche von 1515 bis 1521 im Kampfe für und wider erschienen. Gleichwohl hatte diese umfangreiche Thätigkeit der humanistischen Kreise keine einschneidende und zündende Wirkung auf das Gesamtleben, aufs Volk. Der Grund dieser Erfolglosigkeit liegt darin, daß jene Männer sich fast nur der lateinischen Sprache in ihren Schriften bedienen und ausschließlich auf humanistisch gebildete Leser rechnen. Tungern, der wohl nicht deutsch denken, also auch nicht schreiben konnte, gab gegen Reuchlins deutschen „Augenspiegel“ seine angebliche Widerlegung lateinisch heraus, „damit die Sache nicht ins Volk dringe“, forderte also seine Gegner förmlich heraus, sich gerade der für ihre Zwecke am besten geeigneten Waffe zu bedienen. Indessen verstanden sie ihren Vorteil nicht. Wenn nun auch die humanistischen Schriften ins Deutsche


Fußnoten

  1. Strauß a. a. O. I, 235.
  2. Daselbst I, 237.


Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1886, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Dt_Buchhandels_1_06.djvu/044&oldid=- (Version vom 1.8.2018)