Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 189.jpg

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vorwärts, allein sonderbar, der jeden Schritt und jedes Strauchwerk daselbst kennende Waidmann ging irre und drehte sich in einem Kreise, bis endlich sein Ohr eine sanfte, Aeolsharfen- oder Harmonikatönen ähnliche Musik vernahm und er die Wunderblume vom magischen Lichte erleuchtet erblickte. Er wußte nicht, was ihm geschah, blieb unentschlossen, ob er hören, sehen, riechen oder die Blume brechen sollte, seine Sinne schwanden, um in kurzer Zeit wieder zu himmlischem Genuß zu erwachen. So stand er zweifelhaft – da verkündete der Seigerschlag in Löbau die zwölfte Mitternachtsstunde – es blitzte, ein Krach erscholl und die Blume war verschwunden. Nun wußte der Jäger, was er hätte thun sollen, um sich in den Besitz dieses Kleinods zu setzen. Nun erst, aber zu spät, eilte er an den Ort, wo die Blume gestanden, gewahrte aber keine Spur mehr davon, wohl aber wehte der kühle Morgenwind einen Zettel von schwarzem Pergament, der folgende mit goldener Mönchsschrift geschriebene Worte: Mortalis immaculati cordis, qui tempore floris mei fortuito huc venit casu, carpere me potest et uti bonis, quae praebeo, sin minus, fugiat longe[1] enthielt, dem Betäubten zu.

Eine alte unleserliche Handschrift, die noch Anfangs des vorigen Jahrhunderts mit dem Pergamentzettel in Urschrift, nebst einer gerichtlich aufgenommenen Registratur über die Aussage des Försters auf der Löbauer Rathsbibliothek vorgezeigt wurde, enthielt Folgendes:

„Blühet in dem Gärtlein uf dem Löbawer Berge, allein nur aller hundert Johr, gar in der Mitternachts Stund von St. Joannis Enthäubtung gar ein wunderseltsam Blühmlein, von anmuthiger Gestalt vndt lieblichem Gedüft, welches der, so reinen Herzens ist, leicht aus der Erd reissen kan vndt dadurch zu hoher Ehr vndt vielen Geld gelangt, sintemalen


  1. Der Löbauer Rector M. Martin Boreck 1571 hat dieses Latein folgendermaßen übertragen: Der Sterbliche von reiner Seele, der zu meiner Blüthenzeit von ohngefähr hierherkommt, kann mich brechen und das Glück, das ich ihm gewähre, genießen (der Schluß fehlt: wo nicht, so fliehe er so weit er kann).
Empfohlene Zitierweise:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_189.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)