Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 262.jpg

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allem Anschein nach die Stelle eines Geprängmeisters bekleidete, war noch zu sehen; es kam auf die Wöchnerin zu, erzählte ihr, daß der plötzliche Tod der Ahnfrau ihres Stammes sie in Schreck und große Betrübniß versetzt habe, und daß sie nun sehr unglücklich werden könnten; es bedankte sich übrigens höflich für die ertheilte Erlaubniß des Zutritts in die Wochenstube, und schenkte der Wöchnerin im Namen der ganzen Gesellschaft zum Danke dafür drei Geschenke, nämlich einen goldenen Ring, einen silbernen Becher und ein Waizenbrödchen. Diese drei Dinge, sagte das Männchen, seien von der größten Wichtigkeit, denn so lange sie alle drei vereint in dem Stamme bleiben würden, werde er immer größer, angesehener und reicher werden, und Glück und Ruhm werde sein Eigenthum sein. Sie müßten daher alle drei als ein werthes Heiligthum betrachtet und sorgfältig aufbewahrt werden, der Ring aber solle allemal in dem Geschlechte des ältesten Sohnes verbleiben und von dessen Gemahlin getragen werden. Hierauf empfahl sich das Männchen höflichst wieder, und verschwand durch die bewußte Oeffnung und diese mit ihm. Der Wöchnerin war es, als ob sie aus einem Traume erwache, und sie würde auch Alles für einen Traum gehalten haben, wenn nicht die drei Geschenke ihr so in die Augen geglänzt hätten. Sie rief nun ihre ganze Sippschaft zusammen, und man berathschlagte, wie diese Kostbarkeiten am Besten zu verwahren seien. Es ward ein fester steinerner Thurm erbaut, und der silberne Becher und das Waizenbrödchen tief in seinem Innersten verwahrt, so daß Niemand im Stande war, diese heilbringenden Gaben dem Stamme zu entwenden, den Ring aber trug die, der er geschenkt worden war, unablässig an der Hand. Nach ihrem Tode aber erbte er als ein Altersantheil der Vorschrift gemäß von Glied zu Glied fort, und das Geschlecht war seit dem Besitze dieser Zaubergaben immer größer, reicher und angesehener geworden, so daß man das Glück, welches ihnen von Jahr zu Jahr immer schöner erblühte, nur einem höheren Schutze zuschreiben konnte. Siehe, da war einst die Besitzerin dieses Ringes so unvorsichtig, ihn

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_262.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)