Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 452.jpg

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und ließen sie unter schweren Mißhandlungen in’s tiefste Burgverließ werfen. Hier genaß sie unter furchtbaren Schmerzen eines Knäbleins, und da sie sich von Gott und Menschen verlassen glaubte, schleuderte sie dasselbe an die Mauer des Kerkers. Da stand plötzlich eine weiße Gestalt vor ihr, welche ihr sagte, sie sei seit undenklicher Zeit wegen einer ähnlichen Handlung zum ruhelosen Umherirren von dem Schicksal verurtheilt gewesen, jetzt aber durch sie erlöst worden, und sie werde nun ihre Stelle einnehmen, bis einst ein keusches Weib, welches niemals einen unreinen Gedanken in ihrer Seele gehegt, in stiller Mitternacht ihren Namen dreimal ohne Furcht rufen werde. Die Unglückliche sank tödtlich erschrocken zu Boden und erwachte nicht wieder, wohl aber erschien ihr Geist dem hartherzigen Pflegevater und verkündete seinem Hause Verderben. Reuig eilte er in ihren Kerker hinab, allein er fand nur ihren Leichnam und den ihres neugeborenen Kindes. Er ließ Beiden ein prächtiges Begräbniß ausrichten, allein eben als man sie beisetzte, kehrte sein Sohn als Sieger von seiner ersten Waffenthat zurück. Voller Freude eilte er der Burg seines Vaters entgegen, denn er hatte aus dem Munde des gefangenen Raubritters erfahren, daß seine Geliebte das von Letzterem im Freiwalde ausgesetzte Töchterchen der entführten Gemahlin des Ritters von Scharfenstein sei, und hoffte nun nichts gewisser, als daß seine Eltern nunmehr ihre Einwilligung zu seiner Verbindung mit ihr nicht mehr versagen würden. Böses ahnend, als er die Trauerfahne vom Schloßthurme wehen sah, sprengte er in den Schloßhof, wo ihm der Leichenzug entgegenkam. Die Wahrheit konnte ihm nicht verheimlicht werden, er stieß einen furchtbaren Fluch gegen seine hartherzigen Eltern aus und sank in eine tiefe Ohnmacht, aus der er nur wieder erwachte, um für immer in geistiger Nacht zu leben. Seine Eltern überlebten diese furchtbare Katastrophe nicht lange, ihr unglücklicher Sohn ward auf seine Lebenszeit in einem Kloster untergebracht und der Herzog Wratislaw übergab die Burg Greifenstein als erledigtes

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_452.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)