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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

DIE LATEINISCHE SPRACHE.
Von
Franz Skutsch.

Einleitung. Der Historiker, der es heute unternimmt, uns die Die Aufgabe des Sprachhistorikers. Geschichte der Römer zu erzählen, darf nicht erst da beginnen, wo zuverlässige alte Berichte einsetzen. Er muß es wagen, den Lichtkreis der Überlieferung zu verlassen und den Leser zurückzuführen in das Dunkel vorhistorischer Perioden, in dem nur Rückschlüsse aus den Verhältnissen historischer Zeit hier und da eine ungleiche Erhellung spenden. Die Schichtung der einzelnen Völker in der Apenninhalbinsel zu der Zeit, da in ihr eine Reihe zusammenhängender Begebnisse unserem Auge kenntlich zu werden beginnt, wird mehr oder weniger sichere Vermutungen über die Wanderungen gestatten, die ein jedes Volk gerade an diesen Platz geschoben haben; aus den Einrichtungen des Staates und der Religion sondert der Blick des Forschers oftmals mit Leichtigkeit Urzeitliches aus, das modernere Formen nicht bis zur Unkenntlichkeit zu überdecken vermocht haben.

Andererseits wird der Historiker seine Aufgabe nicht abgeschlossen glauben, wenn er die Römer bis zur Höhe ihrer Entwickelung verfolgt hat. Die Zersetzung des großen Reiches ist des Interesses nicht weniger wert als seine wunderbare Entstehung.

Der Historiker der lateinischen Sprache darf sich sein Ziel nicht niedriger stecken. Auch für ihn beginnt die Geschichte des Lateins nicht mit dem ältesten Sprachdenkmal, auch für ihn schließt sie nicht mit den Schriftstellern, die die Geschichte der römischen Literatur als letzte aufzuführen pflegt. Vielmehr muß auch er nach der einen Seite den Schritt ins vorhistorische Dunkel wagen und ihn nach der anderen Seite hin nicht hemmen, wenn der Zersetzungsprozeß für die lateinische Sprache beginnt. Ja, er schreitet in die Urzeit sicherer hinein als der Historiker, da ihm nicht bloß das Mittel der Rückschlüsse aus den italischen Verhältnissen zu Gebote steht, sondern auch die Vergleichung mit den verwandten Sprachen. Und der Auflösungsprozeß andererseits hat für ihn ein um so lebhafteres Interesse, da er ihn schon Jahrhunderte vorher sich anbahnen und aus ihm wieder Sprachen hervorgehen sieht, die der stolzen Mutter würdige Töchter sind – die romanischen.

Einem Werke wie das vorliegende schien es gemäß, selbst da nicht haltzumachen, sondern in einer flüchtigen Skizze wenigstens zu zeigen, wie das Latein auch mit seinem Tode nicht stirbt. Nicht nur die alte

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/535&oldid=- (Version vom 1.8.2018)