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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur. MancherDie Inschrift vom Forum. Leser erinnert sich vielleicht noch, daß im Jahr 1899 ein Inschriftfund auf dem römischen Forum das Interesse sogar der Tageszeitungen erregte. Unter einem schwarzen Pflaster, das man im Altertum für das Grab des Romulus gehalten zu haben scheint, fand sich eine verstümmelte Säule, die in etwa anderthalb Dutzend Worten einen kärglichen Inschriftrest trägt. Sowohl die Fundumstände wie die Altertümlichkeit der Sprachformen und der Schrift lassen die Annahme nicht allzu verwegen erscheinen, daß dies Denkmal etwa aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammt; jedenfalls haben wir hier das älteste stadtrömische Latein vor Augen. Vergegenwärtigen wir uns den Zustand der Sprache, den wir durch diese Inschrift kennen Das Latein im 6. Jahrhundert v. Chr. gelernt haben. Jene Lauteigentümlichkeiten, die das Latein, wie vorhin angegeben, gegen das Oskisch-Umbrische differenzieren, sind schon vorhanden, aber im übrigen ist der Unterschied gegenüber dem Latein, wie wir es auf der Schule lernen, noch ein gewaltiger. So heißt es z. B. statt sacer ’heilig‘ sakros, statt iusto ’durch den Gerechten‘ iovestod, statt iumenta ’Zugvieh‘ iouxmenta. Wie sich das im einzelnen zu den uns geläufigen Formen entwickelt hat, sind wir nicht in der Lage zu verfolgen, weil aus den nächstfolgenden Zeiten nur wenige Sprachdenkmäler und alle geringen Umfangs erhalten sind. Eine zusammenhängende und ausgiebige Reihe von inschriftlichen und literarischen Monumenten setzt erst gegen Ende des 3. Jahrhunderts ein; erst von da ab ist eine wirkliche Geschichte wenigstens des schriftlich fixierten Lateins möglich. Diese Geschichte aber ist im wesentlichen nur eine Geschichte der Syntax und des Stiles, dennDie Veränderungen des Lateins bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. die Deklinations- und Konjugationsformen haben von jenem Zeitpunkt ab nicht mehr so gewechselt, daß nicht, wer den ciceronischen Brauch kennt, ohne weiteres imstande wäre, im ganzen auch die Komödien des Plautus zu verstehen, die um 200 v. Chr. geschrieben sind. Die Vorgänge also, die dem Latein im wesentlichen die Form gegeben haben, die wir aus der Schulgrammatik kennen, jene schweren lautlichen Verstümmelungen, wie sie sakros, iovestod und iouxmenta erfahren haben, dürften etwa dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. angehören. Teils in diese Zeit, teils 100 bis 150 Jahre später fallen auch die Beeinträchtigungen des alten bunten Vokalismus, von dem eingangs die Rede war: die Diphthonge werden zu einfachen Vokalen (ī oder ū), ai wenigstens zu ae, nur au bleibt erhalten (claudo ’ich schließe‘ usw.); die kurzen Vokale im Wortinnern werden alle zu ĭ oder ĕ (cădo ’ich falle‘, aber concĭdo ’ich falle zusammen‘, rĕgo ’ich richte‘, aber erĭgo ’ich richte auf‘, cantus ’der Gesang‘, aber concentus ’das Zusammensingen‘). Und so viel vokalischen Vollton auch das Latein noch nach dieser Schmälerung besitzt und namentlich unter den Händen eines geschickten Stilkünstlers entfalten kann, so berührt doch bisweilen ein gewisser spitzer und dünner Klang, zumal bei unachtsamer Behandlung, das Ohr minder angenehm.

Ältester Stilistischer Einfluß des Griechischen.In diese älteste uns einigermaßen kenntliche Periode der Sonderexistenz des Lateinischen fällt aber auch schon die erste stilistische Beeinflussung

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/545&oldid=- (Version vom 1.8.2018)