Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache | |
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sogar weit über die des muttersprachlichen Ausdrucks gesteigert. So klagt im 16. Jahrhundert ein französischer Grammatiker über die „Gelüstigkeit, im Französischen den lateinischen Stil anzunehmen und den eigenen aufzugeben“; die großen Schriftsteller dieses und des folgenden Jahrhunderts haben unzählige Latinismen in Konstruktionen und Satzbau. Von den englischen Klassikern sei hier wenigstens Milton genannt, der wie in Wortschatz und Wortformen so in Syntax und Stil besonders häufig lateinischen (freilich auch griechischen) Mustern folgt. Deutsch.Im Deutschen darf die künstlich aufgetürmte Periodisierung, die wir erst neuerdings energisch zu beseitigen beginnen, als lateinisches Erbe gelten, wie im Kanzleistil besonders deutlich wird. Aber auch vieles, das uns im einzelnen bei unseren größten Schriftstellern befremdet, ist denselben Weg gekommen. Haben wir in Lessing einen der Väter unserer modernen Prosa und jedenfalls einen unserer hervorragendsten Stilisten zu verehren, so wird sein Beispiel ja hier besonders beweiskräftig sein. Er wagt gelegentlich Konstruktionen, die uns geradezu schmerzlich berühren: „Seien Sie, wer Sie wollen, wenn Sie nur nicht der sind, der ich nicht will, daß Sie sein sollen“, „ein Band alter Fabeln, die sie ungefähr aus den nämlichen Jahren zu sein urteilten“ usf. Der Latinismus hierin ist auch für den Anfänger im Lateinischen mit Händen zu greifen. Besonders merkwürdig ist der zweite Fall. Denn der „Akkusativ mit dem Infinitiv“ ist gewissermaßen zum Gradmesser des lateinischen Einflusses auf den deutschen Stil geworden. Vor Lessing haben ihn z. B. Notker, der um das Jahr 1000 viel Lateinisches übersetzte, und im 16. Jahrhundert Fischart, der auch unter den ersten war, die deutsche Hexameter bauten. Will man aber erkennen, wie weit die Neigung gehen konnte, das Deutsche in lateinische Fesseln zu schlagen, so muß man des Niklas von Wyle Übersetzungen, „Translatzen“ genannt, ansehen, in deren Vorrede (1478) sich der Verfasser zu der Ansicht bekennt, daz ain yetklich tütsch, daz usz gutem zierlichen und wohl gesatzten latine gezogen und recht und wol getransferyeret wer, ouch gut zierlich tütsche und lobes wirdig haissen und sin müste und nit wol verbessert werden möcht. Darum hat er denn auch dise translaciones uf das genewest dem latin nach gesetzet und nit geachtet, ob dem schlechten gemainen und unernieten man das unverstentlich sin werd oder nit. So wird nicht nur der Akkusativ mit dem Infinitiv, sondern auch der Ablativus absolutus, die geschlechtliche Abwandlung des prädikativen Adjektivs und Partizipiums u. dgl. nachgeahmt, und das Ergebnis ist dann wirklich stellenweise Unverständlichkeit.
Der Lateinunterricht.Es mag nicht an Hoffnungsfreudigen fehlen, die in der Winschränkung des lateinischen Unterrichts, insbesondere dem Wegfall des lateinischen Aufsatzes, eine Gewähr für eine Besserung des deutschen Stiles erblicken, der nun, von einem lästigen Muster befreit und nur nach eigensten Gesetzen sich richtend, fortan größere Leichtigkeit und dabei mehr Eigenart
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/569&oldid=- (Version vom 1.8.2018)