Seite:Griechische und Lateinische Literatur und Sprache.djvu/573

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

in der Neuzeit.Man kann in der lateinischen Poesie anderer Zeiten und anderer Völker dasselbe sich wiederholen sehen: nichts von erstem Range, aber vieles, dessen Verlust uns das Verständnis der Entwicklung sehr erschweren müßte. Petrarca würden seine lateinischen Dichtungen nicht seinen Ehrenplatz verschafft haben, aber mit den lateinischen Prosabriefen zusammen machen sie seine Persönlichkeit, seine Bestrebungen wohl deutlicher als die Sonette und Trionfi. Auch ein Mann wie unser Andreas Gryphius etwa wird verständlicher für den, der seine lateinischen Jugendepen kennt. Sie zeigen, wie tief man sich im 17. Jahrhundert in die alte lateinische Poesie hineinlesen und bis zu welcher Fertigkeit trotz vieler Fehler man die Imitation treiben lernte.

Wenn diese lateinischen Erzeugnisse als Dokumente für die Entwicklung ihrer Verfasser und ihrer Epoche interessieren, so mag anderes an sich, ohne als Rad in dem literarischen Gangwerk wichtig zu sein, dem Kenner einen gewissen Genuß verschaffen. So z. B. manche Dichtung der Humanisten oder des Jesuiten Sarbiewski († 1640) fromme Oden, die wegen ihrer Annäherung an das römische Vorbild ihm von seiner Zeit den Ehrennamen des polnischen Horaz eintrugen, oder des Holländers Johannes Secundus († 1536) zärtliche Kußgedichte, die sich Goethe „wie ein warmes Kissen heilender Kräuter unters Herz legten“ (an Frau v. Stein 2. Nov. 1776). Noch jetzt fördert ein holländisches Preisausschreiben alljährlich lateinische Gedichte zutage, deren Verfasser bisweilen mit erstaunlicher Eleganz selbst so moderne Gegenstände wie das Zweirad zu behandeln verstehen.

All diese nachgeborenen Kinder der lateinischen Muse haben nur ein sekundäres Interesse und werden im ganzen bloß den Philologen und literarischen Liebhaber locken. Prosa.Bei der Prosa aber braucht man solche Einschränkung nur zu machen, soweit es sich um rein belletristischeBelletristisches. Werke handelt. Freilich hat auch hier manches nicht unbeträchtliche Nachwirkungen geübt, z. B. die Schnurrenliteratur; den Einfluß der Facetiae des italienischen Humanisten Poggio († 1459) und seines deutschen Fachgenossen Bebel († etwa 1516) kann man noch bei Lessing und darüber hinaus verspüren. Doch das alles bleibt vereinzelt und unbedeutend im Verhältnis zu den Denkmälern, die lateinische Prosa auf dem Gebiet der Wissenschaften errichtet hat. Hier ist vieles, was auch Nicht-Philologen zu eingehender Betrachtung zwingt und sich solche Betrachtung in seiner Urform erzwingen wird, solange noch nicht der Köhlerglaube herrschend geworden ist, daß einem ernsten Beschauer die Übersetzung statt des Originals genügen könne. Aus der verwirrenden Fülle versuche ich wenigstens einiges herauszuheben. Lateinisch sind die ältesten uns erhaltenen RechtsbücherJurisprudenz. der Germanen, nicht nur die der Westgoten und der Burgunder, die im wesentlichen auf römischen Rechtsquellen beruhen, sondern auch solche, die vorzugsweise auf nationaler Grundlage stehen wie die lex Salica. Der

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/573&oldid=- (Version vom 1.8.2018)