Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 262.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zwölf Ferkeln gefangen hat, von seinen beiden Brüdern ermordet; die Flöte, die ihre Untat verrät, wird aber nicht aus seinem Knochen verfertigt, sondern aus einem Rohrstengel, der aus seinem Grabe emporsprießt und in dem, nach einem weit verbreiteten Volksglauben die Seele des Verstorbenen fortlebt[1]. Als der Schäfer die Flöte zum König bringt, bläst auch dieser darauf, und sie redet ihn an; da befiehlt der König allen Leuten im Reich, darauf zu blasen, und als sie an den einen Bruder kommt, klingt es:

O Bruder mein, o Bruder mein,
Du bläst auf meinem Beinelein.
Du arger Bruder schlugst mich tot,
Es floß mein Blut so rot, so rot;
Der andre Bruder grub mich ein.
Was mochte des wohl Ursach sein?
S war um das Wild, s war um das Schwein,
S war um des Königs Töchterlein.

Im brandenburgischen Märchen bei Engelien-Lahn 1, 105 nr. 68 ‘Die drei Brüder’ erlegt der blinde Sohn den Hasen, den der alte Bauer verlangt, bevor er die Wirtschaft abgibt; von der Weide auf seinem Grabe schneidet ein Schäfer einen Zweig ab und macht sich eine Pfeife; die singt kläglich:

Ach Scheper, wat du bloasest,
Det di dien Herze krenkt.
Hiä mi mien ölster Bruoder schloech
Und mi up dissen Berch begroech.

In zwei pommerschen Fassungen bei Jahn, Volkssagen nr. 510 ‘Das Flötenrohr’, wo die Brüder entweder ein Schwein töten oder ihrem Vater eine Blume holen sollen, ist die Flöte aus Schilfrohr gemacht. Dagegen berichtet die lauenburgische Fassung bei Müllenhoff S. 495 nr. 49 ‘Es kommt doch einmal an den Tag’, wie


  1. Als Aeneas am Grabe des vom Thrakierkönige ermordeten Polydorus einen Myrtenzweig abbricht, quillt Blut hervor, und eine Stimme verkündet die hier verübte Freveltat (Vergil, Aen, 3, 26). Aus den Gräbern zweier Liebender erwachsen, wie in Volksliedern berichtet wird, ein Weißdorn und ein Rosenstrauch, die ihre Zweige zueinander neigen und ineinander schlingen (Koberstein, Aufsätze zur Literaturgeschichte 1858 S. 31. R. Köhler, Kl. Schriften 3, 274. Hauffen, Gottschee S. 178. Chlld, English ballads 1, 96. Doncieux, Romancéro français p. 36. Nigra, Canti del Piemonte nr. 19).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_262.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)