Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 435.jpg

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Schloßbewohner in Zauberschlaf, und ringsum wächst eine Dornenhecke; – D. nach hundert Jahren dringt ein Prinz durch diese, erlöst die Schlafende durch einen Kuß und hält eine fröhliche Hochzeit.

Fast ebenso erzählt Perrault 1696 von ‘La belle au bois dormant’. Zur Taufe sind sieben junge Feen gebeten, für jede steht ein goldener Teller mit goldenem Messer da; unter dem Gastmahl aber sah man eine alte Fee eintreten, die ungeladen war, weil sie seit funfzig Jahren ihren Turm nicht verlassen hatte. Der König ließ ihr noch ein Geschirr vorlegen, das aber nicht golden sein konnte, weshalb sie sich verachtet glaubte und zu murmeln anfing; alsogleich barg sich eine der jungen Feen, um noch zur rechten Zeit vortreten und gutmachen zu können, was die Alte verwünschen würde. Nun begabten die sechs Feen; als die Reihe an die Alte kam, sprach sie aus, die Königstochter werde sich mit einer Spindel in die Hand stechen und daran sterben, worauf jedoch die siebente Fee erschien und erklärte, nicht sterben solle sie, bloß in tiefen Schlaf fallen. Dies erfüllt sich wie in der deutschen Erzählung, nur daß Leute und Tiere nicht von selbst, sondern erst von dem Feenstab angerührt einschlafen. Um den Turm herum wachsen in aller Schnelle Bäume und Gesträuch, die Königstochter heißt nun La belle au bois dormant. Nach hundert Jahren dringt ein Königssohn durch, die Bäume machen ihm von selbst Raum, er kniet vor der Schläferin, worauf sie und ihr Hofstaat erwachen. Nun folgt eine Fortsetzung, die zwar nicht im Dornröschen, aber in dem deutschen Bruchstück 5 ‘Die böse Schwiegermutter’ (= 1812 nr. 84) vorkommt. Der Königssohn hält seine Ehe mit der erweckten Schönen vor seinen Eltern geheim und holt erst nach seines Vaters Tode sie und die beiden Kinder Aurore und Jour, die sie ihm geboren, in sein Schloß. Da will in seiner Abwesenheit seine arge Mutter ihre Enkel und die Schwiegertochter vom Koch schlachten und braten lassen; als sie merkt, daß der Koch sie betrogen hat, sollen alle drei in ein Gefäß voll Kröten und Schlangen geworfen werden; doch wie der König unvermutet heimkehrt, stürzt sie sich selber hinein.

In dem entsprechenden Märchen Basiles 1637 5, nr. 5 ‘Sole Luna e Talia’ erscheinen statt der Feen Wahrsager und verkünden, das neugeborene Kind werde sich an einer Flachsfaser (aresta de lino) zu Tode stechen. Es soll nun kein Flachs ins Schloß gelassen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_435.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)