Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 512.jpg

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(lateinisch nach dem Ulmer Drucke v. J. 1480 Bl. 99b in der Germania 30, 203, deutsch nach der Breslauer Hs. Bl. 123b von Klapper, Mitt. der schles. Ges. f. Volkskunde Heft 20, 11) um 1300 erzählt:

Ein König lag einst an einer unheilbaren Krankheit darnieder. Er hatte von den Ärzten erfahren, daß er nur geheilt werden könne, wenn er Wasser aus dem Quell des Lebens bekäme, das ein Heilmittel gegen jedes Siechtum wäre. Daher rief er seine drei Söhne vor sich und bat sie inständig, sie möchten die Länder durcheilen und die Wässer versuchen, und dem, der ihm das Wasser der Jugend brächte, versprach er sein Reich. Da versahen sich die Söhne mit Geld und verteilten die ganze Erde so unter sich, daß der älteste an den Ufern, der mittlere über die Ebenen, der jüngste aber über die Berge gehen sollte. Schließlich kam der jüngste, nachdem er die dichtesten Wälder durchwandert hatte, zu einem Greise, der ihn darüber belehrte, wo der Quell der Jugend war. Doch wies er ihn auch auf die verschiedenen Gefahren hin, die er zu bestehen hätte; und wenn er diese nicht bestände, dann wäre es besser für ihn zurückzukehren als dorthin zu gehen. Die erste Gefahr aber war die Begegnung mit einer Schlange, die er töten mußte; die zweite Gefahr war die Schönheit von Jungfrauen, die er nicht anblicken durfte; die dritte war die Begegnung mit Rittern und Baronen, die ihm Waffen aller Art anbieten würden, die er aber nicht annehmen durfte; die vierte endlich war die Eröffnung des Palastes, in dem die Jungfrau mit dem Schlüssel saß; denn am Tore waren Glocken, die sogleich läuteten, wenn man daran rührte, und Ritter herbeiriefen, die den Eindringling töteten. Gegen diese Gefahr aber gab der Eremit dem Jünglinge einen Schwamm mit, den er in die Glocken stopfen sollte, damit sie keinen Ton von sich gäben. Nun ging der Jüngling dorthin, und als ihn die Schlange anfiel, tötete er sie unerschrocken mit seiner Lanze. Darauf kommt er auf eine Wiese, auf der ihm wunderschöne Frauen entgegeneilen; doch er verhüllt sein Gesicht und geht, ohne ein Wort zu sprechen, von dannen. Als er zu einem prächtigen Schlosse kommt, treten ihm Ritter und Barone entgegen und bieten ihm Waffen jeglicher Art als Geschenk an und herrliche Pferde; aber er verschmäht das alles und kommt zu dem Palaste, verstopft die Glocken mit dem Schwamm und tritt ein. Da erblickte er eine überaus schöne Frau, die er demütig bat, sie möchte ihm von dem Jungbrunnen geben. Da sprach sie: ‘Mir ist von meinem Vater gesagt worden, ich solle jenes Ritters Weib werden, der alle ihm entgegentretenden Hindernisse siegreich bewältigen und unverletzt zu mir kommen würde. Und da du dieser bist, wirst du nicht allein vom Jungbrunnen haben, sondern ich selbst werde deine Gemahlin werden.’ Und er kehrte mit dem Wasser zu seinem Vater auf

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_512.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)