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die Töne der Marseillaise oder eines Gassenhauers, — man weiß nicht recht, welche Melodien mehr Beifall finden.

Ich schaue mich nach einem Plätzchen um, aber alle Tische sind besetzt und keiner der Soldaten der freien revolutionären Armee will mir einen Platz einräumen. Ich trinke daher meinen Tee stehend am Büfett, und neben mir stehen einige Offiziere, die gleichfalls still und bescheiden ihren Tee einnehmen und achtungsvoll beiseite treten, wenn ein Soldat an das Büfett herantritt, um seine Wünsche zu äußern.

Ich bin mit meinem Tee zu Ende und begebe mich auf den Bahnsteig. In der zugigen Vorhalle sitzen auf ihren Koffern einige Offiziere, sie warten auf den Abgang des Zuges, sie warten still und geduldig, ganz wie damals im Januar das „heilige graue Vieh“.

Es gibt keine Bahnsteigsperre, sie wäre eines freien Landes unwürdig. Das freie Volk flutet frei über den Bahnsteig, d. h. es flutet nicht, der Bahnsteig ist leer, ganz auffällig leer, man sieht nur einige Offiziere und wenige Zivilisten.

„Gott gebe,“ sagt im Waggon ein grauer Oberst, „daß wir unsere Plätze behalten dürfen.“

„Aber die Waggons sind doch beinahe leer, ganz auffällig leer.“

Der Oberst lächelt nachsichtig, wie man zu den Worten eines unvernünftigen Kindes lächelt. Er hat sich einen Platz an der Tür gewählt, einige andere Offiziere stehen im Korridor und bringen ihr Gepäck in den dort befindlichen Netzen unter.

„Warum kommen die Herren nicht ins Abteil?“

Der Oberst lächelt wieder nachsichtig und ordnet die Orden auf seiner Brust. Er muß ein tapferer Mann sein, denn er ist Inhaber einiger Auszeichnungen für Tapferkeit, und die Chevrons an seinem Rockärmel zeigen, daß er fünfmal verwundet worden ist.

Empfohlene Zitierweise:
Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/113&oldid=- (Version vom 1.8.2018)