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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

kleiner Verbände zu grösseren, der stufenweise Aufbau von Selbstverwaltungskörpern. Nur muss als letzter allumfassender Verband in dieser Folge der Staat stehen; die ehedem in der liberalen Doktrin vertretene Meinung, dass kommunale Hoheit ausserhalb der Staatshoheit stände, ist nach dem eben Gesagten für den Staat der Gegenwart zu verwerfen.

Schwächer als bei den Gemeinden ist das Eigenleben bei den zahlreichen gebietlosen Körperschaften, die das öffentliche Recht kennt. Zwar sind auch sie zum Teil von ehrwürdigem Alter. Aber soweit sie sich aus den Zeiten, wo Privatrecht und öffentliches Recht im Gemenge lagen, hinüber gerettet haben in den absoluten und von diesem in den konstitutionellen Staat, ist doch die alte Kraft zumeist nicht mehr in ihnen. Dies gilt auch für solche Verbände, die einen gewissen örtlichen Zusammenhang haben. Die Innungen von heute sind etwas anderes als die Zünfte des Mittelalters und auch die älteren ländlichen Genossenschaften: die Waldgenossenschaften, die Deichverbände haben doch wohl an Lebenskraft eingebüsst.

Immerhin gibt eins ihnen auch heute noch neues wirksames Leben: die Gemeinschaft der wirtschaftlichen Interessen, das Bewusstsein, dass diese Interessen nur in Gemeinschaft befriedigt werden können. Privatrechtliche Genossenschaften aller Art zeugen von der treibenden Kraft dieses Gedankens. Und eben diese Erkenntnis macht sich der Staat zu Nutze; er stellt alten Verbänden neue wirtschaftliche Aufgaben und schafft neue Verbände für neu entstehende Aufgaben. Er stellt sie dahin, wo das Wohl der Mitglieder des Verbandes mit dem Staatswohl sich deckt. Und so ist denn das heutige öffentliche Leben erfüllt von solchen Verbänden: von Berufs-Organisationen der Anwälte, der Ärzte, der Kaufleute, der Handwerker, der Landwirte, den sog. „Kammern“; Genossenschaften, Kassen, Sozietäten – Körperschaften aller Arten reihen sich an.

Öffentlich sind sie, sofern sie im Dienste des Staates eine Hoheit über ihre Mitglieder ausüben, die vielfach schon darin zum Ausdruck kommt, dass die Mitglieder ihnen zwangsweise angehören. Verliehen ist ihnen Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, weil der Staat ihre Sonder-Interessen dadurch dienstbar machen will für die Staats-Interessen. Die Aufsicht muss ihnen gegenüber notwendig schärfer sein als gegenüber den Gebiets-Körperschaften. Denn, da sie Interessen-Verbände sind, so ist ihr Eigenleben stets in Gefahr, im Interessen-Widerstreit zu Grunde zu gehen oder aber in Widerspruch zum Staats-Interesse zu treten. Und schärfer noch als gegenüber den Gebiets-Körperschaften muss diesen Verbänden gegenüber betont werden, dass „salus publica suprema lex“ bleiben müsse.

Das Leben aller öffentlichen Körperschaften, vom Staate bis zu den kleinsten Verbänden, leidet notwendig darunter, dass die Tätigkeit der Organe gebunden ist durch die Verfassung und die auf ihr fussende Gesetzgebung. Zwar kann innerhalb der Körperschaft wiederum eine Dezentralisation stattfinden wie sie dem Staat durch die Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden, den Gemeinden durch die Bestellung von Verwaltungsdeputationen ermöglicht wird – trotz dieser und ähnlicher Massregeln hat die dem neuzeitlichen öffentlichen Recht eigene Organisation der Beaufsichtigung nur zu leicht eine Lähmung der Unternehmungslust und Tatkraft im Gefolge. Der Ruf nach „kaufmännischen“ Verwaltung bedeutet im Grunde nichts anderes als das Verlangen nach privatrechtlicher Ungebundenheit an Stelle öffentlichrechtlicher Gebundenheit des Handelns. Aber vor Übertreibungen muss gewarnt werden. Dass die kritiklose Durchführung dieses Gedankens eine Rückkehr zu überwundenen Zuständen unseres öffentlichen Lebens bedeuten würde, sollte einleuchten.

Die Erkenntnis, dass in der Organisation eine Schwäche aller Körperschaften öffentlichen Rechts begründet sei, hat in neuerer Zeit dahin geführt, den Privat-Vereinen mit gemeinnützigen Zwecken eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, in ihnen die Pioniere der öffentlichen Körperschaften zu erkennen und zu unterstützen. Mag es sich um Säuglingsfürsorge oder Heimatpflege, um Jugenderziehung oder Volksgesundheitspflege, um Förderung der Kunst oder um Fürsorge für entlassene Strafgefangene handeln – überall arbeiten dem Staate und den anderen öffentlichen Körperschaften Privatvereine vor.

In der Freiwilligkeit der Bildung und der Freiwilligkeit der übernommenen Aufgaben liegt ihr Vorzug und liegt ihre Schwäche. Der Vorzug, sofern die Unternehmungslust, die Bereitwilligkeit, die Schnelligkeit des Handelns durch die Fessellosigkeit gefördert wird. Die Schwäche, sofern eben

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/244&oldid=- (Version vom 30.7.2021)