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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

In den deutschen Einzelstaaten aber, zumal in Preussen, haben die Monarchie und das von ihr geschaffene Beamtentum ihre Fähigkeit zur Regierung in schwierigen Zeiten so überzeugend erwiesen, dass der Wunsch nach einer parlamentarischen Regierung zwar nicht geschwunden, aber erheblich abgeschwächt worden ist. Hierzu hat zweifellos die Erkenntnis beigetragen, dass in manchen parlamentarisch-regierten Staaten Günstlingswesen, Bestechlichkeit und Missbrauch der Amtsgewalt einen Umfang angenommen haben, der die verderblichen Wirkungen absolutistischer Regierungen in jeder Hinsicht erreicht. Sind es hier die Höflinge, so sind es dort die Parlamentarier selber, die an der Korruption teilnehmen, und die Beamtenschaft ist in den Staaten mit hochentwickelter Parlamentsherrschaft so wenig gegen Bestechlichkeit gefeit wie in den Despotieen des Orients. Ja, das Parlament wird möglicherweise ebenso von der Beamtenschaft beherrscht wie ein unfähiger Monarch – ist doch der Ausgang der Wahlen stets auch von der Gunst der Beamten abhängig. Und „eine Hand wäscht die andere“; auch in der Politik.

Zugunsten der konstitutionellen Verfassung, die das Parlament an der Regierung teilnehmen, aber nicht schlechthin regieren lässt, spricht in erster Linie der Umstand, dass bei dieser Verfassung die wichtigste Funktion des Parlaments: die einer Kontrolle der Regierung unzweifelhaft am besten zur Geltung kommt. Dies bedarf noch einer genaueren Betrachtung.

Gegen den Gedanken des Parlamentarismus sind mancherlei Bedenken erhoben worden. Sie richten sich zunächst gegen seinen ersten Bestandteil, der, wie wir feststellten, die Wahl zum Parlament als Ausdruck des Willens der Wählerschaft betrachtet. Auch, wenn man den vergeblichen Versuch aufgibt, in der Wahl zum Parlament den „Willen des Volkes“ finden zu wollen, bleibt doch unbestreitbar, dass diese Wahl nur unvollkommen sich eignet, den Willen der Wählerschaft zu bekunden.

Zunächst ist ein Mangel, dass nicht die gesamte Wählerschaft zu Worte kommt, da ja stets von ihr ein Teil sich der Wahl enthält. Dem könnte man entgegnen, dass, wer nicht wählt, nicht zähle. Aber weiter ist zu berücksichtigen, dass immer nur die Mehrheit zur Geltung kommt. Und wendet man gegen dies Bedenken ein, dass doch der Wille einer Vielheit immer nur ein Mehrheitswille sein könne, so bleibt jedenfalls unbestreitbar, dass infolge der Gruppierung, die die Wählerschaft zu Wahlzwecken erfahren muss, bei jedem Wahlsystem eine Minderheit künstlich in eine Mehrheit verwandelt werden kann. Vor allem aber: der Wille dieser Wählerschaft wird ja nicht erzeugt durch Austausch der Gedanken unter denen, die an der Willensbildung teilnehmen, sondern er wird in Wählergruppen erzeugt. Je nach der Vorbereitung der Wahl und nach den äusseren Umständen, unter denen sie sich vollzieht, ist daher die Entschliessung der Wähler an den verschiedenen Orten ganz verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. Es fehlt der Willensbildung ganz und gar die Einheitlichkeit, die bei einer Urabstimmung in der Volksversammlung eines kleinen Staates durch die Einheit der Handlung gewährleistet ist. Man kommt mithin, wenn man in der Wahl des Parlaments eine Willenskundgebung der Wählerschaft sehen will, ohne Fiktionen nicht aus.

Indessen wird man dem parlamentarischen Gedanken nicht gerecht, wenn man die Funktionen des Parlamentes nicht berücksichtigt. Das Parlament soll als Ausschuss der Bürgerschaft des Staates an der Bildung des Staatswillens teilnehmen. Das ist der zweite Bestandteil des parlamentarischen Gedankens. Für eine Staatsauffassung, die nicht vom Einzelnen sondern vom Gemeinwesen ausgeht, wird die Richtigkeit dieses Gedankens nicht durch den Hinweis auf die „natürlichen Rechte“, noch auch durch eine Aufzählung der Leistungen des Einzelnen nachgewiesen werden können, sondern lediglich durch eine Prüfung der Vorteile, die dem Gemeinwesen aus der Einrichtung erwachsen.

Zwei Aufgaben des Parlaments wird man dabei in den Vordergrund stellen müssen:

1. Das Parlament ist die Stelle, wo die gemeinsamen Interessen aller Staatsbürger zur Geltung, die einander entgegenstehenden zum Ausgleich kommen sollen. Man hat wohl, um die Mängel der Einrichtung des

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/397&oldid=- (Version vom 19.8.2021)