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Durchführung eines derartigen Staates haben. Die katholische Forderung an den Staat, die Sittlichkeit in ihrem Sinne zu verwirklichen, wird aber von der Kurie heute noch festgehalten, weil dies eben im System des Katholizismus begründet ist.

3. Das Naturrecht.

Eine grosse Rolle spielt der Staatszweck im Naturrecht gemäss seiner ganzen Konstruktion des Staates als Resultat eines Vertrages, denn Verträge schliesst der Mensch nicht zwecklos. Der Zweck, aus dem Naturzustand herauszukommen, genügt aber für sich allein nicht, man verfolgt vielmehr mit der Vertragsabschliessung das Ziel, gewisse von vornherein bekannte und berechnete Zustände herbeizuführen. So sind mit der Gründung des Staates für die Naturrechtler auch schon die Zwecke desselben gegeben. Aber nur in der Beseitigung des Status naturalis oder des bellum omnium contra omnes stimmen die Vertreter der naturrechtlichen Theorien überein, in ihrer Konstruktion der Staaten und den diesen gestellten Aufgaben weichen sie bedeutend von einander ab, oft auf Grund ihrer politischen Anschauungen.

Anknüpfend an die Beseitigung des Naturzustandes, wie immer dieser beschaffen sei, stellen sie von Hugo Grotius an in der Regel den Frieden und die Sicherheit des Einzelnen als ersten Zweck des Staates hin. Pacem et securitam communem habe der Staat zum Zweck, sagt Pufendorff und seine Schule. An diese Theorie vom Sicherheitszweck, die übrigens nicht von den Naturrechtlern entdeckt wurde, sondern wie das Naturrecht überhaupt, schon im Altertum zu finden ist,[1] knüpft später die Lehre vom Rechtszweck an. Mit dem dürftigen Sicherheitszweck allein begnügen sich die Naturrechtler allerdings in der Regel nicht, die meisten fügen noch weitere Zwecke hinzu, wobei ihre politischen Anschauungen oder die sozialen Verhältnisse, unter denen sie lebten, bisweilen von ausschlaggebender Bedeutung waren.

So ist bei Spinoza neben Frieden und Sicherheit des Lebens die Verwirklichung der geistigen Freiheit durch die Gesellschaft Zweck des Staates.[2] Für Locke ist die Bewahrung der angeborenen Freiheit und die Erhaltung des Privateigentums Staatszweck. Seit Locke ist der Staat wiederholt als eine Schutzanstalt der menschlichen Rechte aufgefasst worden, mit der Garantierung von Sicherheit, Freiheit und Eigentum seien seine Aufgaben erschöpft. In derselben Richtung bewegen sich mit verschiedenen Modifikationen die Theorien der Physiokraten, mit Quesnay an der Spitze, unzweifelhaft von Locke beeinflusst. Dass auch hier Spuren einer eudaimonistischen Theorie wiederholt zu finden sind, liegt im Wesen dieser populären und auf den ersten Blick einleuchtenden Lehre. Um die Menschen zum Wohle und zur Glückseligkeit zu führen, muss der Staat vor allem für Sicherheit sorgen, andernfalls bestünde ein fortwährender Krieg zwischen den Menschen und somit ein unerträglicher Zustand; liberté, propriété, sûreté ist die Formel, in die die Physiokraten den Staatszweck zusammenfassen.[3]

Die Theorie vom Sicherheitszweck hat lange Zeit die Geister der verschiedenen Richtungen aller Nationen beherrscht und bis zu einem gewissen Grade geeinigt. Im einzelnen weist aber die Lehre zahlreiche Abarten auf. Nennt David Hume[4], ähnlich wie Pufendorff nur Frieden und Ordnung als Staatszweck, so Blackstone[5] neben Leben, Freiheit und Eigentum noch ein ganzes System von Neben- und Hilfsrechten, die der Staat zu schützen habe. Am krassesten aber kommt diese Schutzidee wohl bei Schlözer zum Ausdruck, der sagt: „Der Staat ist eine Erfindung: Menschen machten sie zu ihrem Wohle, wie sie Brandkassen erfanden.“[6]

Der naturrechtliche Staat, der aus den einzelnen Menschen, den sozialen Atomen, mechanisch zusammengesetzt ist, steht in schroffem Gegensatz zum antiken Staat; er war nur des Menschen wegen vorhanden und hatte keine andere Aufgabe als seinen Gliedern ein sicheres und behagliches Privatleben zu gewähren. Mit Recht hat ihn Lassalle einem Nachtwächter verglichen, der nichts zu tun hat, als aufzupassen, ob nirgends eingebrochen wird.


  1. So z. B. sehr klar bei Epikur. Vergl. Zeller, a. a. O. III. 1. S. 455 f.
  2. Abhandlung vom Staate V. Kap. § 2.
  3. Vergl. Güntzberg, Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten. S. 75 f.
  4. Original Contract. Essays and treatises 11. No. 12.
  5. Commentaries. I. 1. Buch 1 Kap.
  6. Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre (Göttingen 1793) S. 3.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/72&oldid=- (Version vom 9.7.2021)