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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Von sämtlichen Fraktionen beider genannten Parlamente hat während dieser Zeit keine eine solche Stetigkeit ihrer Stärke gezeigt, wie die Zentrumsfraktionen. Wo sie nach Lage der Verhältnisse festen Fuss fassen konnten und gefasst haben, haben sie den gewonnenen Boden durchweg zu behaupten gewusst. Die feste Organisation der Partei im Lande, auf welche die Fraktionen sich stützen, ihre gut geleitete grosse, mittlere und kleine Presse geben ihnen ebenso die Gewähr auf weiteren Bestand, wie die Zuverlässigkeit und gute politische Schulung ihrer Wähler. Doch wird es der Partei in letzter Zeit schwieriger, in grossstädtischen und industriellen Bezirken gegenüber der Sozialdemokratie ihre Stellung zu verteidigen.

Einen fühlbaren Rückgang erlitt die Fraktion des Reichstages zuerst bei den Neuwahlen von 1912: sie erzielte nur noch 90 Mandate, indem ein grosser Teil der bisher behaupteten Stichwahlkreise durch das Zusammengehen des überwiegenden Teiles der liberalen Parteien mit den Sozialdemokraten verloren gingen. Bei der Hauptwahl vom 12. Januar 1912 wurden nur 1 991 000 Stimmen für die Partei abgegeben; doch waren schon bei dieser viele Tausende von Zentrumsstimmen für andere rechtsstehende Kandidaten abgegeben worden.

Bei der Neuwahl zum preussischen Abgeordnetenhause im Mai 1913 dagegen behauptete sich die Fraktion mit 103 Mandaten.

Im Reichstag hat die Zentrumsfraktion von Anfang an Mitglieder aller deutschen Volksstämme in sich vereinigt. Vom Reichstag aus griff die Zentrumsbewegung auf die politische Entwicklung in den Einzelstaaten über, so dass, dem Beispiele des preussischen Abgeordnetenhauses folgend, auch in anderen einzelstaatlichen Parlamenten Zentrumsfraktionen entstanden. In der zweiten Kammer in Hessen bildete sich schon am 20. Dezember 1872 eine Zentrumsfraktion. Die im Jahre 1869 in Bayern entstandene „Partei der Patrioten“ wandelte sich im Jahre 1887 in eine Zentrumspartei um, die ältere badische „Katholische Volkspartei“ ebenso im Jahre 1888; in Württemberg vereinigten sich die katholischen Mitglieder der Zweiten Kammer am 19. Februar 1895 zu einer Zentrumsfraktion, nachdem bereits am 11. Juli 1894 bei Gelegenheit der damaligen Landtagswahlen eine württembergische Zentrumspartei gegründet worden war; selbst im oldenburgischen Landtag ergab sich in den letzten Jahren eine Gruppenbildung, welche auf dem Boden der Zentrumsideen steht. Alle diese Bildungen nahmen in ihrem Grundcharakter den Geist willig auf, wie er von der Zentrumsfraktion des Reichstages ausging, und sind bestrebt, in deren Sinne zu wirken. Einen etwas abweichenden, noch vielfach unklaren Charakter zeigt die im Jahre 1907 gegründete Zentrumsfraktion im elsass-lothringischen Landesausschuss. Er kommt auch darin zur Geltung, dass Mitglieder der elsass-lothringischen Zentrumspartei, welche ein Mandat zum Reichstag erhielten, der dortigen Zentrumsfraktion nicht beitraten, während im übrigen die Mitglieder der einzelstaatlichen Zentrumsparteien mit der allgemeinen deutschen Zentrumspartei sich durchaus eins fühlen.

Die bisherige Geschichte der Partei beweist, dass die Zentrumsbewegung eine natürliche, eine notwendige und bodenständige war und ist, und dass sie aus der Lage unserer allgemeinen Parteiverhältnisse als gegebene Folge herauswachsen musste.

Es ist keine Frage, und kann ruhig zugegeben werden, dass der dauernd feste Bestand der Zentrumspartei und der Zentrumsfraktionen zusammenhängt mit der einheitlichen kirchenpolitischen Grundanschauung ihrer Wähler, wie ja auch kirchenpolitische Gesichtspunkte den hervorragendsten, wenn auch nicht einzigen Anstoss zu ihrer Gründung gegeben haben. Der Zentrumsgedanke, auch nach seiner kirchenpolitischen Seite hin, ist seinem Wesen nach durchaus verfassungsmässig und konfessionell-paritätisch. Trotzdem fand er tatsächlich im wesentlichen nur bei dem katholischen Volksteil fruchtbaren Boden und gewann aus dem protestantischen Volksteil nur vereinzelte Zustimmung. Ebenso sicher ist aber auch, dass die kirchenpolitischen Ideale der Partei für sich allein niemals genügt haben würden, um der Partei einen so festen Bestand und eine so lange Dauer zu gewährleisten. Überall, wo der Parlamentarismus Wurzel geschlagen hat, zeigt die Erfahrung, dass religiöse Anschauungen und kirchenpolitische Ziele allein auf die Dauer nicht genügen als Fundament für eine grosse politische und parlamentarische Partei. Wo rein kirchliche Parteibildungen versucht wurden, sind sie bald zerflossen, soweit sie nicht dazu kamen, neben dem kirchenpolitischen auch einen klaren staatspolitischen Boden zu gewinnen. Gerade das ist das charakteristische der Zentrumspartei, dass es ihr gelungen ist, trotz ihrer kirchenpolitischen Ausgangspunkte

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/33&oldid=- (Version vom 30.8.2021)