Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/65

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Abgeordneten und die nationalliberale Presse für ein Ausnahmegesetz erklärten, am 11. Juni aufgelöst und die Neuwahlen auf den 30. Juli festgesetzt. Trotz eines mit beispielloser Verhetzung gegen die Sozialdemokraten geführten Wahlkampfes – wurden doch die Sozialdemokraten mit den verruchtesten Mördern auf eine Stufe gestellt – erlitt die Partei doch nur eine geringe Einbusse an Stimmen, die Zahl derselben sank von 493 000 auf 437 000 und die Zahl der Mandate von 12 auf 9. Im übrigen wies der neue Reichstag in seiner Zusammensetzung eine solche Veränderung auf, dass Bismarck erreicht hatte, was er wollte; er konnte je nachdem eine konservativ-nationalliberale oder eine konservativ-ultramontane Mehrheit bilden. Sofort bei seinem Zusammentritt legte die Regierung dem Reichstage den Entwurf eines „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vor, der an Schärfe den abgelehnten Entwurf weit übertraf. Verlangte er doch das Verbot von Vereinen, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken! Des weiteren sah er die Auflösung aller sozialdemokratischen Versammlungen, ja sogar von vornherein ihr Verbot vor, und ebenso das Verbot aller sozialdemokratischen Schriften. Auf die Uebertretung des Gesetzes stand schwere Strafe. Das schlimmste aber war, dass nach dem Entwurf die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes und in Verbindung damit die Ausweisung sozialdemokratischer Agitatoren zulässig war. Der Entwurf wurde mit unwesentlichen Aenderungen und unter Beschränkung seiner Geltungsdauer auf 2½ Jahre mit 221 gegen 149 Stimmen am 19. Oktober 1878 angenommen und bereits 2 Tage darauf am 21. Oktober als Gesetz verkündet.

Zwölf Jahre lang hat die deutsche Sozialdemokratie unter dem Ausnahmegesetz gestanden, das zwar ursprünglich nur bis zum 31. März 1881 Geltung hatte, dann aber von Periode zu Periode verlängert wurde. Eine Zeit der schwersten Verfolgungen brach über die Partei und ihre Mitglieder herein, fast die gesamte sozialistische Literatur wurde unterdrückt, Versammlungen wurden planmässig verboten, Vereine sowohl politischer als gewerkschaftlicher Art wurden aufgelöst, über Berlin und andere Grossstädte wurde der Belagerungszustand verhängt. Zahllos waren die Ausweisungen, unerhört hart die Bestrafungen, kurz und gut, das Gesetz wurde in der denkbar schärfsten Form ausgelegt, Tausende von Existenzen wurden vernichtet. In folgenden Zahlen spiegelt sich die Leidensgeschichte der Sozialdemokratie unter dem Ausnahmegesetz wieder: Nach einer ungefähren Statistik waren unter dem Sozialistengesetze 1300 periodische oder nichtperiodische Druckschriften und 332 Arbeiterorganisationen der einen oder anderen Art verboten worden. Ausweisungen aus den Belagerungsgebieten waren gegen 900 erfolgt, von denen über 500 die Ernährer von Familien betroffen hatten; auf Berlin fielen 293, auf Hamburg 311, auf Leipzig 164, auf Frankfurt 71, auf Stettin 53, auf Spremberg 1; in Offenbach hatte sich die hessische Regierung an der Ausweisung nicht ortsangehöriger Reichsbürger genügen lassen. Die Höhe gerichtlich verhängter Freiheitsstrafen belief sich auf etwa 1000 Jahre, die sich auf 1500 Personen verteilten. Mehring[1], dem wir diese Angaben entnehmen, fügt hinzu: „Wenn alle diese Ziffern noch nicht entfernt an die Wirklichkeit heranreichten, so gaben sie auch an und für sich nur ein ganz ungenügendes Bild von der Fülle des vernichteten Menschenglückes und Menschenlebens, von den zahllosen Märtyrern, die durch kapitalistische oder polizistische Drangsalierungen von ihrem armen Herde vertrieben, ins Elend der Verbannung gejagt, in ein frühes Grab gestürzt worden waren.“

Der Schlag traf die Partei unvorbereitet, aber schon nach einem Jahre hatte sie sich soweit wieder erholt, dass sie im Auslande ein Blatt „Sozialdemokrat“ ins Leben rufen konnte, dessen erste Nummer am 28. September 1879 in Zürich erschien. Im Jahre 1888 wurde die Redaktion, da die Leiter des Blattes infolge des Drucks, den die deutsche Regierung auf die schweizerischen Behörden ausübte, aus der Schweiz ausgewiesen wurden, nach London verlegt. Die Verbreitung des „Sozialdemokrat“ war mit grossen Gefahren


  1. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 4.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/65&oldid=- (Version vom 4.9.2021)