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sein; die Frage ist aber, ob das Verhältnis zwischen beiden noch gesund und natürlich. Jedenfalls sieht die Zukunft düster aus. Der Anwaltsberuf, weil der Korruption in viel höherem Grade als andere Berufe ausgesetzt, bedarf mehr als diese der Unabhängigkeit nach unten, die eine gesicherte wirtschaftliche Stellung verleiht. Diese aber ist bei der andauernden Überfüllung nicht anders zu erreichen als durch Beschränkung der Zahl. Bis jetzt haben die Organe der Rechtsanwaltschaft diese streng abgelehnt; 1909 hat eine Versammlung der deutschen Anwaltskammer-Vorstände, 1911 der Anwaltstag zu Würzburg mit grosser Mehrheit den numerus clausus in jeder Form für unannehmbar erklärt. Es scheint sich aber ein Umschwung vorzubereiten. Eine Umfrage, die ein eigens zu diesem Zwecke gebildeter Verein rheinisch-westfälischer Rechtsanwälte 1913 veranstaltete, hat ergeben, dass von 7527 abgegebenen Stimmen 6482 sich für Zulassungs-Beschränkungen ausgesprochen haben, „die weder die Unabhängigkeit noch die Freizügigkeit des Standes antasten und keine Hintansetzung aus politischen oder konfessionellen Beweggründen zulassen.“

Die Rechtsanwaltschaft ist im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Ansehn und Einflusse gelangt, die ihr früher versagt waren. An den deutschen Verfassungskämpfen war sie in auffallend hohem Masse beteiligt: Stüve in Hannover, Oetker in Kurhessen, Beseler in Schleswig-Holstein, v. Itzstein, v. Soiron, Hecker, Struve, Brentano in Baden, Schott und Römer in Württemberg, Braun und Schaffrath in Sachsen, Giskra und Berger in Österreich waren Advokaten. In der Paulskirche sassen ihrer 90, fast ein Sechsteil der Versammlung, darunter glänzende Redner wie Ludwig Simon-Trier. Die Forderungen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Rechtspflege, des schwurgerichtlichen Verfahrens und der Anwaltskammer-Verfassung wurden schon im Vormärz von den wenigen damals bestehenden Anwalt-Vereinigungen erhoben, der Gedanke eines einheitlichen deutschen Privatrechts schon 1840 durch den Advokaten Purgold-Darmstadt lebhaft aufgegriffen und 1843 auf die Tagesordnung eines allgemeinen deutschen Anwaltstages, des ersten in seiner Art, gesetzt, der aber infolge Einspruchs der Regierungen nicht zustande kam. An den Arbeiten zum Strafgesetzbuche zur Zivilprozessordnung und zum Bürgerlichen Gesetzbuche ist die Rechtsanwaltschaft amtlich und weit umfangreicher unamtlich beteiligt gewesen; allein zum letzteren ist neben unzähligen kleineren Arbeiten ein starker Band „Gutachten aus dem Anwaltstande“ erschienen. Allgemein anerkannt ist der ausserordentliche Umfang, in dem die Rechtsanwaltschaft an der wissenschaftlichen Durchdringung des neuen Rechts beteiligt ist; Hachenburg-Mannheim, der tiefschürfende Gelehrte, Staub-Berlin, der scharfsinnige Praktiker, Fuchs-Karlsruhe, der kühne und beredte Vorkämpfer der soziologischen Schule, sind nur einige aus der grossen Schar. Von den Praktikern müssen Verteidiger ersten Ranges, wie Holthoff, Munckel und Sello, hier erwähnt werden; aus den übrigen auch nur die hervorragendsten zu nennen ist unmöglich. In allen Selbstverwaltungs-Ämtern ist die Rechtsanwaltschaft überaus zahlreich; die einflussreichsten Politiker gehen fortwährend aus ihr hervor: Schulze-Delitzsch, Forckenbeck, Miquél, Windthorst, in neuester Zeit Bassermann, Krause, Trimborn sind nur einige wenige aus der Menge. Vielleicht kein Beruf ist in so hohem Umfange an der Staats- und Gemeindeverwaltung beteiligt wie die Rechtsanwaltschaft.

Aber auch an Angriffen hat es der Rechtsanwaltschaft nicht gefehlt; ja es kann beobachtet werden, dass diese in der neuesten Zeit an Zahl und Heftigkeit zugenommen und bereits den Erfolg gehabt haben, dass die Rechtsanwälte gesetzlich von dem Auftreten vor den Gewerbe- und Kaufmanns-Gerichten ausgeschlossen sind. Allerdings liegen die Gründe hierfür zum grossen Teil in Umständen, für welche die Rechtsanwaltschaft nicht verantwortlich ist: in der unvermeidlichen Verteuerung, die durch Zuziehung von Rechtskundigen, und der unvermeidlichen Verlangsamung, die durch Verhandeln mit Bevollmächtigten eintritt. So richten sich auch die Klagen über Verteuerung, welche in der Deutschen Richterzeitung immer wieder erhoben werden, weniger gegen die Rechtsanwaltschaft als gegen das Gesetz, welches den Verurteilten verpflichtet, seinem Gegner in jedem Falle die Rechtsanwaltsgebühren zu erstatten. Aber es wird ihr auch Verwickelung und Vervielfältigung der Prozesse, Verschleppung und Unwahrhaftigkeit, Unrechtsvertretung und Klientenfang vorgeworfen. Es sind das Vorwürfe, die von jeher gegen den Anwaltstand erhoben worden sind und in der Eigentümlichkeit dieses Berufs immer eine gewisse Grundlage finden werden.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/118&oldid=- (Version vom 17.11.2021)