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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Schulpflicht. Was die Schulpflicht betrifft, so ist sie in allen deutschen Staaten auf mindestens 7 Jahre ausgedehnt. Volle achtjährige Schulpflicht für beide Geschlechter haben Sachsen, Hessen und die drei Hansastädte. In Baden besteht sie nur für Knaben, in Bayern für einzelne grosse Städte, in Württemberg und Elsass-Lothringen nirgends. In Preussen liegen die Verhältnisse sehr verschieden. In der Provinz Schleswig-Holstein dauert die Schulpflicht sogar länger als 8 Jahre, in anderen Landesteilen gilt als Grundsatz, dass jedes Kind an dem Entlassungstermin aus der Schule entlassen wird, der der Vollendung seines 14. Lebensjahres folgt. Da aber in den meisten Schulen nur ein Aufnahmetermin, dagegen zwei Entlassungstermine zu Ostern und Michaeli stattfinden, so kommt es, dass (vgl. Statistisches Jahrbuch der deutschen Städte, Seite 679) ein nicht kleiner Prozentsatz der Kinder die Schule nur 7½ oder 7 Jahre besucht.

Klassenbildung. In den meisten Staaten, in Preussen, Bayern, Württemberg, Hessen, Braunschweig und in den Hansastädten, sowie in Elsass-Lothringen, ist die Pflichtschule nach dem Grundsatze der Ganztag-Schule ausgebaut, d. h. jede Klasse muss einen besonderen Klassenlehrer und ein besonderes Klassenzimmer haben. Anders liegen die Verhältnisse in Sachsen und Baden. Hier bilden Volksschulen, in denen für jede Klasse ein besonderer Lehrer und ein besonderes Klassenzimmer vorhanden sind, eine Ausnahme. (Vergl. Statistisches Jahrbuch der deutschen Städte, Seite 656.) Die eigentlichen Volksschulen in Sachsen und Baden sind meist reine Halbtag-Schulen, in denen zwei Klassen von einem Lehrer geführt werden. Doch sind in Staaten mit der billigen Halbtagschuleinrichtung die Klassenfrequenzen nicht unbedeutend kleiner als in den Staaten mit dem kostspieligen Betriebe der Ganztagschule. Aber es ist fraglich, ob die niedrigere Klassenfrequenz ein Ersatz ist für die Verkürzung der Gesamtschulzeit durch Halbtagsunterricht.

Als Normalzahl für die Besetzung der Klassen wird 50 (Hamburg, Lübeck, Waldeck), 50 bis 60 (Bremen), 60 (Sachsen-Meiningen), 70 (Preussen für mehrklassige Schulen), 80 (Preussen für einklassige Schulen, Bayern, Württemberg für Schulen mit 2 und mehr Lehrstellen) festgestellt. In diesem Punkt ist Deutschland hinter den anderen germanischen Staaten (Schweden, Norwegen, Dänemark, England, Vereinigte Staaten) ziemlich weit zurück. In den grossen Städten aller deutschen Staaten sinken allerdings die durchschnittlichen Klassenfrequenzen wesentlich unter diese Ziffern. So hatte beispielsweise Lübeck im Jahre 1910 eine durchschnittliche Schülerzahl von 41 pro Klasse, Charlottenburg von 42, Zwickau von 43, Augsburg von 45, München von 49.

Schulunterhaltungspflicht. In allen deutschen Staaten obliegt die Pflicht der Schulunterhaltung den politischen oder den besonders dazu gebildeten Schulgemeinden. Nur in Anhalt ist die Volksschule ausschliesslich eine Staatsanstalt. Schulgeld wird noch in vielen Landgemeinden erhoben. Es schwankt zwischen 2 und 10 Mk. im Jahre. Auch das Kirchenvermögen sowie örtliche Stiftungen werden neben einem besonderen Schulvermögen beigezogen. An einzelnen Orten, so besonders in einigen preussischen Provinzen, werden die Schulen noch von Standesherren unterhalten. Für die eigentlichen Volksschulen (im Gegensatz zu den in manchen Staaten vorhandenen gehobenen Volksschulen oder Mittelschulen) haben die meisten Städte auf das Schulgeld verzichtet. Was nicht durch die hier flüssig werdenden Mittel gedeckt werden kann, haben die Gemeinden aus ihrem Steuersoll zu bestreiten, soferne sie nicht durch Staatszuschüsse oder Zuschüsse der grösseren Kommunalverbände (Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise, Distrikte) entlastet werden. Aus diesen Mitteln haben die Gemeinden zu bestreiten: Gehälter und teilweise auch Pensionen der Lehrkräfte, die Baukosten und den Unterhalt des Schulhauses, Beschaffung von Lehrmitteln und andere Schulbedürfnisse. Neuerdings macht sich mehr und mehr das Bestreben geltend, wenn nicht die ganze so doch einen grossen Teil der gemeindlichen Schullast der Staatskasse zuzuschieben. Aber es ist gar kein Zweifel, dass mit der Verringerung der Pflichten Schritt für Schritt auch die Verringerung der Rechte auf dem Schulgebiete für die Gemeinden Hand in Hand gehen würde. Das wäre kein Glück für die deutsche Volksschule. Denn gerade der Autonomie der Gemeinden, insbesondere der grossen Städte, verdankt Deutschland die Entwicklung seines blühenden Volksschulwesens. Der Zentralisation der Macht folgt mit psychischer Notwendigkeit die Uniformierung der Organisation. Sobald diese aber sich nicht mehr beschränkt auf die Regelung der äusseren Verhältnisse, sondern auch das innere

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/138&oldid=- (Version vom 20.11.2021)