Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/142

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

weniger, als sie haben würden, wenn sie in einer beliebigen preussischen Stadt die Volksschule acht Jahre lang besuchen würden und sogar noch 600 Stunden weniger, als bei einem nur siebenjährigen Besuch einer bayerischen Volksschule.

Lehrerbildung und Lehrerbesoldung. Um die Aufgabe der Volksschule: sittlich gerichtete und für das praktische Leben brauchbare Staatsbürger auszubilden, zu erfüllen, haben sich die deutschen Bundesstaaten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auch immer mehr der Lehrerbildung angenommen. Die Organisation der Lehrerbildungsanstalten ist im Deutschen Reiche nicht wesentlich verschieden. Sie schliessen sich unmittelbar an die Volksschule an und erstrecken sich auf 5, 6 oder 7 Jahre. Das Unterscheidende der deutschen Lehrerbildung von der Lehrerbildung anderer germanischer Staaten ist, dass sie von Anbeginn an in speziellen Unterrichtsanstalten erfolgt. Diese Massnahme war so lange notwendig, als die geringen Bezahlungen und die untergeordnete Stellung der Volksschullehrer begabte und halbwegs bemittelte Schüler abhielten, nach Absolvierung der höheren, allgemein bildenden Lehranstalten sich dem Volksschullehrerberuf zuzuwenden. Das hat sich heute in vielen Bundesstaaten geändert. Man könnte sehr wohl die deutsche sechsklassige Realschule als Grundlage für das auf drei Jahre auszudehnende Lehrerseminar benützen, wodurch sicherlich ein Hauptwunsch der deutschen Lehrerschaft nach grösserer Vertiefung ihrer Bildung erfüllt würde. Heute dagegen geht der normale Weg, der in den Lehrerberuf führt, zunächst durch eine dreijährige, nur für angehende Schullehrer zugängliche Präparandenschule, die sich an die sieben- oder achtklassige Volksschule unmittelbar anschliesst. Auf diese Präparandenschule folgt alsdann ein zwei- oder dreijähriges Lehrerseminar, nach dessen Absolvierung der junge 18 bis 19 jährige Schüler unmittelbar in die Praxis eintreten kann, und überall, wo Lehrermangel herrscht, auch wirklich eintritt.

Was die Besoldung betrifft, so ist sie gerade im letzten Dezennium nicht unbeträchtlich gewachsen und man kann heute wohl behaupten, dass der deutsche Volksschullehrer im Durchschnitt der bestbezahlte Volksschullehrer von allen Kulturstaaten ist, wenn auch noch vieles zu wünschen übrig bleibt, wenigstens für den Landlehrer einzelner Staaten. Im einzelnen auf die Gehaltsverhältnisse einzugehen, ist bei der Mannigfaltigkeit dieser Verhältnisse unmöglich. Der niedrigste bezug des definitiven Lehrers dürfte heute mit 1500 M. anzusetzen sein, der höchste (München) mit 5520 M. In den meisten Fällen ist der Gesamtbezug pensionsfähig und zwar von 30–75%.

Schluss. Betrachtet man die Entwicklung des deutschen Volksschulwesens im Laufe des 19. Jahrhunderts, so kann man nicht in Abrede stellen, dass sie eine durchaus erfreuliche ist. Nichtsdestoweniger entspricht die heutige Volksschule nicht mehr den völlig veränderten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen des Deutschen Reiches, die einesteils eine grosse Menge alter Erziehungskräfte aufgelöst haben und andernteils an den einzelnen Staatsbürger kraft seiner politischen Rechte, die ihm das 19. Jahrhundert gebracht hat. sehr viel bedeutendere Anforderungen in bezug auf seine Einsicht und Charakterbildung stellen. Das 20. Jahrhundert wird die grosse Aufgabe zu lösen haben, durch eine Umwandlung der inneren Organisation der Volksschule auf der Grundlage des oben erwähnten Prinzips der Aktivität und durch eine wirksame Ausgestaltung der Fortbildungsschule bis zum 18. Lebensjahr, die als ein integrierender Bestandteil des Volksbildungswesens betrachtet werden muss, jene schweren Mängel zu beheben, die heute die achtklassige Volksschule bei aller Fürsorge, welche ihr die Staaten zugewendet haben, und bei allen Opfern, die für sie gebracht werden, noch aufweist.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/142&oldid=- (Version vom 20.11.2021)