Die Diva und die Notbremse
Vor nichts in der Welt hat der Mensch einen so unbedingten heiligen Respekt, wie vor der Notbremse. Sie erscheint ihm wie eine geheimnisvolle unbekannte Kraft, die, von tollkühner Menschenhand gelöst, mit schwerer Vergeltung den übermütigen Täter trifft. Eltern weisen Kindern mit erhobenem Finger bedeutsam den geheimnisvollen Hebel, schrecken sie warnend, ihn zu berühren oder auch nur anzuschauen.
Lepra oder Cholera oder die Pest erscheint den Menschen als leichter Schnupfen im Vergleich zu der Katastrophe der Auslösung der unheimlichen Gewalt der Notbremse.
Die erschreckliche Furcht basiert im Urgrunde auf einer atavistischen Veranlagung oder einer Infektion mit dem Respektbazillus, der uns schon von Jugend auf im Blute gärt, sich mit den Jahren fortgesetzt vermehrt und diese hektische Subordination und zitternde Scheu vor der amtlichen Verordnung hervorbringt. Protokoll! Amtliche Sistierung! Diese Worte sind Keulenschläge. Diese Worte lassen die Menschen mit Schauder überlaufen.
Diese Veranlagung hatte die Opernsängerin Julie Briendöpke in ausgesprochenem Maße.
Die Beschäftigung am Theater gebiert ja sowieso in kurzer Zeit äußerste Nervosität. Auf dieser Basis wachsen schon unbedeutende Mißhelligkeiten des Alltags zu gesteigerten Tragödien. Ein stehengebliebener Schirm, eine auf das Seidene verschüttete Soße, ein heruntergefallener Zopf, eine im Rücken geplatzte Bluse oder
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/153&oldid=- (Version vom 1.8.2018)