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flüchtigen Diva nach. Die Diva sprang sinnlos in eine elektrische Bahn, die ihren Weg kreuzte. Neben ihr saß ein altes Mütterchen mit einem Kapotthut und gütigen, wohlwollenden, blauen Augen, die würde Verständnis für ihr Unglück haben. Laut schluchzend wandte sie sich an die Nachbarin: „Denken Sie, meine Gute, ich habe die Notbremse gezogen; ich bin verloren.“

Erschreckt schaute die alte Frau auf, verließ so behende, wie ihre Gicht es ihr erlaubte, den Platz neben der Diva und setzte sich in die äußerste Ecke des Wagens. Die Diva folgte ihr in ihrer zwingenden Hysterie, sich von dem drückenden Alp zu befreien, dorthin: „Haben Sie Erbarmen, ich habe die Notbremse gezogen.“

Die alte Frau rief hilfeflehend nach dem Schaffner, zu halten und sie aussteigen zu lassen. „Ich habe nie die Notbremse gezogen,“ jammerte beteuernd das alte Mütterchen. Sie zeigte mit der bedeutungsvollen Geste nach der Stirn, auf die Diva weisend.

Julie Briendöpke verfiel völlig der furchtbaren fixen Idee der eingeschalteten Notbremse. Unentwegt, in grausamer Beharrlichkeit, murmelte sie: „Ich habe die Notbremse gezogen.“ In seltenen lichten Momenten versuchte sie unbewußt, das dreigestrichene f zu trillern und das viergestrichene c zu singen. Aber gewöhnlich sah man sie in dem Garten des großen, grauen, vielfenstrigen Hauses, in dem sie untergebracht worden, gebeugt dahinschreiten, fortgesetzt schuldbewußt vor sich hin sagend: „Ich habe die Notbremse gezogen!“

Empfohlene Zitierweise:
Hermann Harry Schmitz: Buch der Katastrophen. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz-Buch_der_Katastrophen-1916.djvu/161&oldid=- (Version vom 1.8.2018)