Sie versuchte Einwendungen zu machen, mußte aber schließlich dem hartnäckigen Menschen den Platz räumen. Verzweifelt drängelte sie sich wieder durch die Reihe. Unwillige, hämische Bemerkungen fielen über sie her.
„Bsssst, bssssst. Ruhe, sitzen, bssssst,“ schallte es von allen Seiten.
Eine entsetzliche Verwirrung kam über sie. Sie wußte nicht mehr ein noch aus. Nur heraus aus diesem Theater! Sie verlief sich bei diesem Versuch auf die andere Seite des Parketts, befand sich plötzlich in einer Parkettloge, geriet in ihrer Not in den Orchesterraum und sogar auf die Bühne, über die sie zweimal wie ein gehetztes Wild, einen Ausweg ins Freie suchend, hin und her lief. Das Stück war so tiefsinnig und rätselhaft, daß das Publikum meinte, das gehöre dazu.
Auf einmal befand sie sich auf dem ersten Rang, wo sie in einem freien Sessel ermattet zusammenbrach. Die Dunkelheit im Raum und das gleichförmige Geplätscher des Dialogs schläferten sie ein; bald war sie fest eingeschlafen.
Die Vorstellung war zu Ende, noch immer saß die Tante schlafend auf dem ersten Rang.
Die Logendiener kamen und deckten Schutztücher über die Sitze. Sie übersahen in der Eile und dem Halbduster die schlafende Tante und bedeckten sie mit einer schweren Decke –
Als im nächsten Herbst das Theater wieder für die neue Saison hergerichtet wurde, fand man in der ersten Rangloge Nr. 14 auf Platz 4 eine mumifizierte
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Leipzig: Ernst Rowohlt Verlag, 1911, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/058&oldid=- (Version vom 1.8.2018)