Im Nebenzimmer übte jemand sehr auf dem Klavier.
„… und dann, was ich sagen wollte,“ quetschte der Vater hervor, „ich möchte mal nach dem Buch fragen, ob es Ihnen gefallen hat und ob Sie es vielleicht aushaben?“
„Welches Buch?“
„Sie wissen doch – das Buch von mir, das schöne Buch, was ich Ihnen vor drei Wochen geliehen habe.“
„Ach so, ja. Jetzt fällt es mir ein. – Ja, wo habe ich das?“
Dem Vater standen dicke Angstperlen auf der Stirn.
„Warten Sie einmal, da muß ich meine Frau fragen. Haben Sie denn das Buch so nötig?“
Herr Mehlenzell verließ murmelnd das Zimmer.
Im Nebenzimmer spielte man zum siebenten Male „Mädchen, warum weinest Du“.
Der Vater ging an die halb geöffnete Tür und schaute hinein. Lenchen Mehlenzell saß am Klavier.
Man hatte auf einen Stuhl Bücher gelegt, damit Lenchen hoch genug saß.
Der Vater war einer Ohnmacht nahe; Lenchen saß auf dem prächtigen Buch!
Der Vater war sonst nicht roh. Er stürzte aus dem Hinterhalt auf das nichtsahnende Kind und warf es von seinem Sitz, ergriff das Buch und floh.
Zu Hause. – Das Buch wurde geprüft, es hatte gelitten. Man hatte auf dem Deckel etwas geschnitten, etwas Fettiges, scheinbar Wurst. Es mußte häufig gefallen sein, die Ecken waren verbogen und die Seiten saßen teilweise lose im Rücken.
Mit zitternder Hand blätterte der Vater in dem Buch.
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/083&oldid=- (Version vom 1.8.2018)