Rettung gefährdeter Mädchen, verbunden mit einem Asyl gegründet. Ein besonderes Augenmerk sollte auf den Schutz allein reisender Mädchen geworfen werden, zu welchem Zwecke sich abwechselnd ein Vereinsmitglied, mit einer gelben Rosette geschmückt, am Bahnhofe aufzuhalten hatte.
Da die Geldfrage durch die Stiftung einer anderen Dame, deren Verwandte vielleicht nicht gut kochten oder widersprachen, erledigt wurde, beruhigte sich mein Vater und legte der Tante zwei saftige Bruststücke eines idealen Kapaunen auf den Teller.
Der Verein hatte nun schon seit drei Wochen seine Tätigkeit aufgenommen, und die blütenweißen Bettchen des Asyls standen immer noch unberührt.
Man war erstaunt, so wenig Unsittlichkeit in der Welt vorzufinden.
Am meisten versprach man sich von der Bahnhofsmission, und allabendlich versammelte sich der Verein im Asyl, um die Damen des Bahnhofdienstes zu erwarten, in der sehnlichsten Hoffnung, nun endlich die bereits gezückten Fittiche der christlichen Liebe über dem ersten Schützling ausbreiten zu können.
Aber jeden Abend die gleiche Enttäuschung. Ausgefroren, staubbedeckt, mit müden Beinen und verdrossen erschien dann zu später Stunde die Erwartete. Allein. Man hörte resigniert den Bericht über die Erlebnisse des Tages, der so ganz jeder in das Gebiet des eigentlichen Vereinszweckes fallenden, interessanten Note entbehrte.
Einige abgestandene Mädchen vorgeschrittenen Jahrgangs, die leider auch nicht mehr die geringste Aussicht hatten, moralisch gefährdet zu werden, wandten sich wohl ab und zu Auskunft heischend an
Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien. Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_Harry_Schmitz_Der_Saeugling.djvu/115&oldid=- (Version vom 1.8.2018)