Seite:Hermann von Bezzel - Der 1. Glaubensartikel.pdf/68

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vieles verwelkt, an das wir unser Herz hingen. Aber so gewiß er so gerecht ist, daß er auch die geringste gute Tat unvergessen sein läßt, so gewiß ist er auch so gerecht, daß er die geringste Untat ahndet und straft. Die geringste Untat! Schon die alten Heiden haben es gewußt: der Götter Mühlen mahlen langsam, aber klar. Wie viele Jahrhunderte hat Gott geschwiegen! Es ist, als ob die Welt auf einer dünnen Eisdecke ginge und diese Eisdecke wird, je mehr auf ihr lastet, desto stärker und tragfähiger. Gott schweigt. Jahrhunderte läßt er das Unrecht herrschen; dann kommt ein lauer Wind, ein Tau von Süd und die Eisdecke wird brüchig und die Weltgeschichte sinkt unter die geborstenen Schollen und vergeht. „Ich bin dem Ephraim wie eine Motte und dem Haus Juda wie eine Made!“ (Jos. 5 12.) Dieses heimliche Zerstörungswerk, das in den Kleidern anhebt, von niemand beachtet, durch stille Zeiten und Schweigen und Warten! Und nun wird plötzlich das Gewand ans Tageslicht gebracht und es zerfällt und zerfasert. So macht es Gott, wenn er schweigend Jahre über unser Leben hingehen läßt. Er straft nicht, züchtigt nicht, ahndet nicht, er kümmert sich nicht. Wir werden still, sicher, stolz, stark. Und dann tritt er ein, und das ganze Lebensbild ist zerrissen, die Farben verfließen, die Töne verrauschen, die Kräfte zerschmelzen, das Leben ist nichts! Seht, das ist der Gott, den wir im ersten Artikel bekennen: ich glaube an Gott, den Allmächtigen. O daß diese Betrachtungen in uns allen