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freundlicher Zug, jedermann schätzte dich deswegen. Nun bist du älter geworden und bist auf einmal geldgierig, ängstlich und berechnend. – Meine Christen! Die Sünden, die sich von selbst aufzehren, sind die allergefährlichsten; ihre Ausbrüche hören auf, aber ihre Gefahren schlagen nach innen. Oder du sagst: Ja, Sünde ist nicht Unreife, sondern Schwachheit. Ja, wollen wir denn unser ganzes Leben in dieser elenden Schwachheit verharren und endlich uns mit dieser Schwachheit entschuldigen, als ob uns Gott so schwach und kraftlos hätte werden lassen? Sollte der dann die Sünde strafen dürfen, der uns sündig gemacht hat?

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 Oder ist Sünde, so sehen es die meisten Menschen an, lediglich Mangel an Verstand, es fehlt an Einsicht. Woher kommt es aber denn, daß reichbegabte Leute, die genau das Rechte wissen, oft weit mehr in Sünde geraten als schlichte, des Denkens wenig kundige Menschen, die Gott fürchten. Nein, wer weiß, was Sünde ist, nämlich die Störung des Gleichgewichtes der Seele, die Erregung aller Lebensleiden und Todesgefahren, die Entfremdung von dem wahren Lebensgut und die Anerbietung falscher Lebensgüter, und wer es einmal gemerkt hat, daß man mit jeder Sünde dem näher kommt, den man fliehen möchte, der spricht: Wenn es keine Vergebung der Sünde gibt, dann muß ich sterben. Unterschätzt die Sünde nicht, keine Sünde. Hast du es noch nie erfahren, daß du am Abend so unzufrieden mit dir warst? Es ist eigentlich nichts sehr Schweres am Tage dir widerfahren, du hast dein Tagewerk leidlich vollbracht; aber am Abend war es in deinem Herzen so leer, du willst die Erlebnisse des Tages an dir vorüberziehen lassen, du hattest keine – aber ja, doch, da kam die Erinnerung an ein scharfes Wort, an eine bittere Rede, an eine unschöne Handbewegung, an eine harte Miene; da kam die Erinnerung an all das Viele, das du nicht getan hattest, an die Menge der Versäumnisse, wie reich der Tag hätte sein können und wie trüb und arm er niederging. Und auf