Seite:Hermann von Bezzel - Die zehn Gebote.pdf/238

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deine Gesänge sind klar und vernehmlich, dein gottesdienstliches Leben ist korrekt und löblich, aber du hast ein zweizüngiges Wesen. In der Kirche bist du fromm und außer der Kirche unfromm; in der Kirche lobst und preisest du und außer der Kirche redest du gegen deinen Nebenmenschen. In der Kirche schwingt sich deine Seele über die Niederungen des Lebens und außer der Kirche will sie nur in den Niederungen wohnen. Liebe Christen! Schlimmer als das böse Wort ist das zweideutige. Ich habe dich eben über einen Nebenmenschen sehr scharf urteilen hören, so scharf, daß ich mich nicht mit einer Entschuldigung hervorwagte, es schien alle Hoffnung für ihn begraben, und nun öffnet sich die Türe und der, den du eben getötet hast, tritt herein: dein Antlitz verstellt sich und leuchtet ihm entgegen, und deine Hand weiß die seine nicht zu lassen: es soll nicht also sein! Man nennt es Höflichkeit und guten Ton, im Himmel nennt man es Lüge, und in der Hölle freut man sich darüber. Der reiche Mann hat weniger Unrecht getan, aber er hat seine Worte nicht gemessen, er hat seine Rede nicht geheiligt, zu viel Worte für die Welt und zu wenig für ihr Leid gehabt: darum ward er gepeinigt. Wie schwer die Wunden und wie groß die Wunden der Zunge sind, will uns Jakobus klar machen, indem er sagt: „Die Zunge kann kein Mensch zähmen.“ Nichts ist dem Menschen zu schwer: die Schätze der Unterwelt hat er zutage gefördert, die Perlen des Meeres ans Tageslicht gebracht; jetzt will er das Luftreich beherrschen und durchmessen: nichts erscheint ihm zu schwer. Nur zwei Dinge vermag der Mensch nicht: er vermag dem Tode nicht zu entgehen und die Zunge nicht zu zähmen. „Wer aber auch in keinem Worte fehlet, der ist ein vollkommener Mann und kann auch den ganzen Leib im Zaum halten.“ Es ist aber nur einer, der sagen kann: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ Petrus bezeugt von ihm: in seinem Munde ist noch nie ein Betrug erfunden worden.