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 Der Name des heutigen Sonntags Judica ist aus den Tiefen des Psalters herausgeholt: Richte mich, Gott, und führe meine Sache. (Ps. 43, 11.) Die Kirche legt diese Bitte dem Herrn in den Mund, auf dessen Antlitz sie keinen Flecken und in dessen Seele sie nichts Unreines gefunden hat, weil sie weiß, daß Menschenurteil fehlsam ist und ihre Aussagen von Jesu nicht an die Wirklichkeit heranreichen. Nur Einer versteht ihn ganz und nur Einem Urteil steht und fällt er.

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 Aber der andere Name des heutigen Sonntags: Dominica de Passione, der Passionssonntag, weil von heute an das Gedächtnis der Kirche ganz in die Leidensgeschichte sich versenken soll, bringt uns näher an die Aufgabe heran, welche nicht ein zufälliges Thema, sondern der tägliche Kampf stellt: Passionsgedanken sind nicht selbstwillig erfundene und erdachte, sondern vom Leben aufgenötigte, denn der Kern des Lebens ist Leiden und der Protest gegen diese Anschauung ist ihr Beweis. Was nicht sein sollte, hat im Leben sich das Recht erworben, und was sein Recht haben wollte, kam nicht zur Gestaltung. Die Wirklichkeit hat sich von der Wahrheit gelöst und in ihrer Uebermacht die Frage nicht nach Wahrheit, sondern ob es eine solche gebe, zurückgelassen. Im tiefsten Herzen wohnt das Verlangen nach Glück, daß alles so sein möge, wie es sein solle und könne und jede Erscheinung ganz das zu Gestalt und Wesen bringe, was in einer ewigen Idee ihr beschieden ist. Aber je näher das Leben und seine Arbeit an die Aufgabe herantritt, das ihm eingestiftete Ideal zu erreichen und je mehr es sich müht, es zu gestalten, desto ferner tritt es und desto schmerzvoller wird die Erkenntnis, daß man nicht erreichen kann, was man soll, und nicht erschienen ist, was erscheinen wollte. In den Schmerz über Vergeblichkeit und Erfolglosigkeit des Ringens um wahres Glück senkt sich die quälende Frage, ob nicht das Ideal nur dazu sei, den Menschen arm und schuldvoll werden und in seiner Pein verloren sein zu lassen, ob nicht die Fahrt nach den Inseln des Glücks, immer wieder gewagt, an den Gestaden der Seligen vorbeitragen müsse, eben weil sie nur in der Illusion bestehen. Und die Gefahr tritt noch näher heran, ob nicht auch die Arbeit

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Hermann von Bezzel: Passionsgedanken. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1916, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Passionsgedanken.pdf/3&oldid=- (Version vom 10.11.2016)