David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse | |
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Theorien der Naturwissenschaft mathematische Begriffe auftauchen, erwächst der Mathematik die Aufgabe, die diesen Begriffen zu Grunde liegenden Principien zu erforschen und dieselben durch ein einfaches und vollständiges System von Axiomen derart festzulegen, daß die Schärfe der neuen Begriffe und ihre Verwendbarkeit zur Deduktion den alten arithmetischen Begriffen in keiner Hinsicht nachsteht.
Zu den neuen Begriffen gehören notwendig auch neue Zeichen; diese wählen wir derart, daß sie uns an die Erscheinungen erinnern, die der Anlaß waren zur Bildung der neuen Begriffe. So sind die geometrischen Figuren Zeichen für die Erinnerungsbilder der räumlichen Anschauung und finden als solche bei allen Mathematikern Verwendung. Wer benutzt nicht stets zugleich mit der Doppelungleichung für drei Größen , , das Bild dreier hintereinander auf einer Geraden liegenden Punkte als das geometrische Zeichen des Begriffes „zwischen“. Wer bedient sich nicht der Zeichnung in einander gelagerter Strecken und Rechtecke, wenn es gilt einen schwierigen Satz über die Stetigkeit von Funktionen oder die Existenz von Verdichtungsstellen in voller Strenge zu beweisen. Wer könnte ohne die Figur des Dreiecks, des Kreises mit seinem Mittelpunkt, wer ohne das Kreuz dreier zueinander senkrechter Achsen auskommen? oder wer wollte auf die Vorstellung des Vektorfeldes oder das Bild einer Curven- und Flächenschaar mit ihrer Enveloppe verzichten, das in der Differentialgeometrie, in der Theorie der Differentialgleichungen, in der Begründung der Variationsrechnung und anderer rein mathematischer Wissenszweige eine so wichtige Rolle spielt?
Die arithmetischen Zeichen sind geschriebene Figuren und die geometrischen Figuren sind gezeichnete Formeln, und kein Mathematiker könnte diese gezeichneten Formeln entbehren, so wenig wie ihm beim Rechnen etwa das Formiren und Auflösen der Klammern oder die Verwendung anderer analytischer Zeichen entbehrlich sind.
Die Anwendung der geometrischen Zeichen als strenges Beweismittel setzt die genaue Kenntniß und völlige Beherrschung der Axiome voraus, die jenen Figuren zu Grunde liegen, und damit diese geometrischen Figuren dem allgemeinen Schatze mathematischer Zeichen einverleibt werden dürfen, ist daher eine strenge axiomatische Untersuchung ihres anschauungsmäßigen Inhaltes notwendig. Wie man beim Addiren zweier Zahlen die Ziffern nicht unrichtig untereinandersetzen darf, sondern vielmehr erst die Rechnungsregeln d. h. die Axiome der Arithmetik das richtige
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)