Seite:Historische Zeitschrift Bd. 001 (1859) 109.jpg

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Weissagung, und eben das ist es, was den Idealisten vom Phantasten unterscheidet, daß dieser willkürlich selbstgemachte Zwecke mit unmöglichen Mitteln verfolgt, jener dagegen von dem Gefühl vorhandener Uebelstände ausgeht und geschichtlich berechtigten Zielen zustrebt, welche nur deßhalb in ihrer weiteren Ausführung phantastisch werden, weil die Bedingungen für ihre reinere Fassung und ihre naturgemäße Verwirklichung noch nicht vorhanden sind.

Unter allen den Schriften, auf welche die vorstehenden Bemerkungen anwendbar sind, ist wohl kaum eine zweite an geschichtlicher Bedeutung, wie an innerem Gehalt, mit der platonischen Republik zu vergleichen. Uns freilich spricht auch diese Schrift auf den ersten Blick seltsam genug an. Ein Staat, in welchem die Philosophen regieren, und mit absoluter Macht, ohne eine Verfassung oder sonst eine gesetzliche Schranke, regieren sollen; in welchem die Trennung der Stände so streng durchgeführt ist, daß den Kriegern und Beamten jede Beschäftigung mit Landwirthschaft und Gewerben untersagt wird, die Landbauer und Gewerbtreibenden ohne Ausnahme von aller politischen Thätigkeit ferngehalten, zu steuerzahlenden Unterthanen herabgedrückt werden; in welchem andererseits die Aktivbürger ganz nur dem Staate, nie und in keiner Beziehung sich selbst gehören sollen; ein Staat, welcher für seine höheren Stände die Ehe, die Familie, das Privateigenthum aufhebt; wo alle Verbindungen von Mann und Weib für den einzelnen Fall von der Obrigkeit angeordnet, die Kinder, ohne ihre Eltern zu kennen, von ihrer Geburt an in öffentlichen Anstalten erzogen, die sämmtlichen Aktivbürger auf Staatskosten gemeinschaftlich gespeist, die Mädchen ebenso, wie die Knaben, in Musik und Gymnastik, in Mathematik und Philosophie unterrichtet, die Weiber, wie die Männer, zu Soldaten und Beamten verwendet werden; ein Staat, welcher auf wissenschaftliche Bildung gegründet sein will, und doch der freien Bewegung des geistigen Lebens die stärksten Fesseln anlegt, jede Abweichung von den herrschenden Grundsätzen, jede sittliche, religiöse und künstlerische Neuerung streng unterdrückt – ein solcher Staat steht mit allen unsern sittlichen und politischen Begriffen so vielfach im Widerspruch, er scheint nicht blos, sondern er ist auch so unausführbar, und er ist dieß schon in seiner Zeit selbst so sehr gewesen, daß es nicht zu verwundern ist, wenn der

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)