Der Herr antwortete ihr und sprach: „Meine liebe Freundin! Mein Vater gebot mir zu dieser Zeit, die voller Gnaden ist, daß ich an dem Kreuze sterben soll. Das Gebot will ich nicht brechen, sondern ich will gehorsam sein. Denn so wird von mir geschrieben werden: Daß ich meinem Vater gehorsam bin gewesen bis in den Tod des Kreuzes. Dein Gebet mag ich nicht erhören, denn der Vater hat Urtheil über mich gegeben, um daß der Propheten Wort erfüllt werde.“
Hiemit ging Maria Magdalena wiederum zu der Jungfrau Maria und sprach zu ihr mit fließenden Zähren:
„Ich mag leider bei meinem Herrn nichts geschaffen. Gehe du hin, Mutter der Ehren, und bitte ihn selber, vielleicht wird der Herr gütig von deinem Gebet und wird unsern Willen erfüllen.“
Da saßen Maria die Mutter Gottes und Maria Magdalena bei einander und vergossen mancher heißen Zäher in bitterlichem Weinen. Ihr beider stille Stimm’, ihre klägliche Geberde, ihre überfließenden Zähren möchten alle Creaturen im Himmel und auf Erden erbarmt haben.
Maria stand auf von ihrem Weinen und trat zu ihrem Sohn mit solchen Worten und so reichen Sachen, daß der Herr der Mutter mit der Schrift und mit göttlichen Rechten antworten mußte. Die Jungfrau hub an zu bitten. Zum Ersten sprach sie:
Franz Joseph Holzwarth: Passionsbilder. Franz Kirchheim, Mainz 1856, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Holzwarth_Passionsbilder.djvu/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)