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Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung.
Von Herrn Wilhelm v. Humboldt[1].

1. Das vergleichende Sprachstudium kann nur dann zu sichern und bedeutenden Aufschlüssen über Sprache, Völkerentwicklung und Menschenbildung führen, wenn man es zu einem eignen, seinen Nutzen und Zweck in sich selbst tragenden Studium macht. Auf diese Weise wird zwar allerdings selbst die Bearbeitung einer einzigen Sprache schwierig. Denn wenn auch der Totaleindruck jeder leicht zu fassen ist, so verliert man sich, wie man den Ursachen desselben nachzuforschen strebt, in einer zahllosen Menge scheinbar unbedeutender Einzelheiten, und sieht bald, daß die Wirkung der Sprachen nicht sowohl von gewissen großen und entschiedenen Eigenthümlichkeiten abhängt, als auf dem gleichmäßigen, einzeln kaum bemerkbaren Eindruck der Beschaffenheit ihrer Elemente beruht. Hier aber wird gerade die Allgemeinheit des Studiums das Mittel, diesen feingewebten Organismus mit Deutlichkeit vor die Sinne zu bringen, da die Klarheit der in vielfach verschiedner Gestalt doch immer im Ganzen gleichen Form die Forschung erleichtert.

2. Wie unsere Erdkugel große Umwälzungen durchgangen ist, ehe sie die jetzige Gestaltung der Meere, Gebirge und Flüsse angenommen, sich aber seitdem wenig verändert hat, so giebt es auch in den Sprachen einen


  1. Vorgelesen den 29. Junius 1820.