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ihre innere und feinere Ausbildung, wenn ihre äussere Umgrenzung (gegen andere) und ihr Bau im Ganzen einmal unveränderlich feststeht.

Die beiden ersten lassen sich nicht mit Sicherheit von einander absondern. Aber einen entschiedenen und wesentlichen Unterschied begründet der dritte. Der Punkt, welcher ihn von den andern trennt, ist der der vollendeten Organisation, in welchem die Sprache im Besitz und freien Gebrauch aller ihrer Functionen ist, und über den hinaus sie in ihrem eigentlichen Bau keine Veränderungen mehr erleidet. Bei den Töchtersprachen der Lateinischen, bei der Neu-Griechischen und bei der Englischen, welche für die Möglichkeit der Zusammensetzung einer Sprache aus sehr heterogenen Theilen eine der lehrreichsten Erscheinungen und der dankbarsten Gegenstände für die Sprachuntersuchung ist, läßt sich die Organisationsperiode sogar geschichtlich verfolgen, und der Vollendungspunkt bis auf einen gewissen Grad ausmitteln; die Griechische finden wir bei ihrem ersten Erscheinen in einem, uns sonst bei keiner bekannten Grade der Vollendung; aber sie betritt, von diesem Moment an, von Homer bis auf die Alexandriner, eine Laufbahn fortschreitender Ausbildung; die Römische sehen wir einige Jahrhunderte hindurch gleichsam ruhen, ehe feinere und wissenschaftliche Cultur in ihr sichtbar zu werden beginnt.

9. Die hier versuchte Absonderung bildet zwei verschiedene Theile des vergleichenden Sprachstudiums, von deren gleichmäßiger Behandlung die Vollendung desselben abhängt. Die Verschiedenheit der Sprachen ist das Thema, welches aus der Erfahrung, und an der Hand der Geschichte bearbeitet werden soll, und zwar in ihren Ursachen und ihren Wirkungen, ihrem Verhältniß zu der Natur, zu den Schicksalen und den Zwecken der Menschheit. Die Sprachverschiedenheit tritt aber in doppelter Gestalt auf, einmal als naturhistorische Erscheinung, als unvermeidliche Folge der Verschiedenheit und Absonderung der Völkerstämme, als Hinderniß der unmittelbaren Verbindung des Menschengeschlechts; dann als intellectuell-teleologische Erscheinung, als Bildungsmittel der Nationen, als Vehikel einer reicheren Mannichfaltigkeit und größeren Eigenthümlichkeit intellectueller Erzeugnisse, als Schöpferin einer auf gegenseitiges Gefühl der Individualität gegründeten, und dadurch innigeren Verbindung des gebildeteren Theils des Menschengeschlechts. Diese letzte Erscheinung ist nur der neuern Zeit eigen, dem Alterthume war sie bloß in der Verbindung der