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Frau Gärtner lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Wie fremd, wie erbärmlich erschien ihr die Frau, die vor einigen Monaten diesen Brief schrieb, und doch, diese fremde, erbärmliche Frau war sie selbst. Die Vorfälle jenes Unglückstages schwebten nochmals an ihrem Geist vorüber. — Als sie den Brief geschrieben, wollte sie ihn persönlich zur Post bringen. Unterwegs sprach sie eben bei Frau Ostwald, ihrer Freundin und Leidensgenossin, vor. Diese saß im Zimmer, ein Waschbecken und Salbentöpfchen vor sich. „Bist du krank?“ „Nein, Hermine, aber ich habe meinen Hans verprügelt.“ Dann hatten sie beide ihre Klagen ausgetauscht über die Schule, die Lehrer, den Krieg, der auch Herrn Ostwald entführt hatte, und schließlich über die edlen Spießgesellen Hans und Felix. „Du kannst nichts Besseres tun, als Felix ebenfalls verprügeln“, hatte Frau Ostwald gesagt. „Kloppstock ist das einzige Mittel; und wenn dich danach die Hände schmerzen, ist dies das einzige Mittel: du nimmst Schwanencreme und reibst ein.“ Mit diesem Rat war Frau Gärtner gegangen. Jackenfett für den Jungen, Schwanenfett für sie. Fast mußte sie darüber lachen, daß durch die zwei Fette das gesunkene Pflichtgefühl bei Felix gehoben werden sollte. Sie wußte ja selbst, daß ein frischer, fröhlicher Klaps bei Unarten gut am Platze ist, aber je mehr sie über Felix nachdachte, um so tiefer schien ihr das Übel bei ihm zu stecken. Wo hatte sie nur einst gelesen von jungen Menschen mit krankem Hirn und morschem Herzen? Wenn sie so manches bedachte, sein schweigendes, träumerisches, zurückgezogenes Wesen, die oft hervorspringende Lieblosigkeit, die Verachtung seiner Pflichten, all dies Unmännliche in seinem Charakter, dann paßte gerade für Felix das Bild vom kranken Hirn und morschen Herzen.

In finsterem Sinnen ging sie weiter. An einem Laden sah sie eine Gruppe Menschen vor einem neuen Extrablatt versammelt. Neugierig trat sie hinzu und las die strotzenden Zeilen: „Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten“, hatte Mayer-Waldeck aus Tsingtau telegraphiert.

Empfohlene Zitierweise:
Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/77&oldid=- (Version vom 24.7.2016)