wo sie aber ganz gut seine Worte vernehmen konnten, und hielt dann eine sehr bewegliche Ansprache an sie: „Habet doch Erbarmen“, sprach er, „mit euch selbst und dem Volke, habet Erbarmen mit eurer Vaterstadt und dem Tempel und benehmet euch gegen sie doch nicht gefühlloser, als die Heiden. 363 Sehet, wie gerade die Römer, die im Tempel nichts zu suchen haben, Ehrfurcht vor dem Heiligthum ihrer Feinde tragen und bis auf diese Stunde dasselbe niemals angetastet haben; und ihr, die ihr im Schatten des Tempels groß geworden seid, und denen er, wenn er unversehrt bleiben sollte, wieder ganz ungetheilt gehören wird, wie, ihr könnt ihn nicht schnell genug der Vernichtung preisgeben! 364 Ihr seht doch fürwahr, wie schon eure stärksten Mauern zusammengestürzt sind, und dass die einzige, die noch steht, es an Festigkeit mit den schon erstürmten Mauern gar nicht aufnehmen kann. Ihr kennt zudem die Unüberwindlichkeit der Macht Roms und seid auch mit ihrer Knechtschaft von früher her schon bekannt geworden. 365 Ich sage letzteres aus dem Grunde, weil der Kampf für die Freiheit, soll er wirklich das schöne Streben sein, als das er gilt, von allem Anfang schon unternommen sein muss. Wer aber, nachdem er sich einmal schon unterworfen und lange Jahre gefügt hat, später erst das Joch abschütteln will, dessen Anstrengungen sind wie die letzten Zuckungen eines Sterbenden und nicht die Schläge eines Freiheitshelden. 366 Gewiss kann man sich auch über kleinere Herren hinwegsetzen, aber unmöglich über solche, die da schon Alles unter ihrer Faust haben. Was hat sich denn bis jetzt der Herrschaft der Römer entziehen können, außer jenen Gegenden, die wegen ihrer Hitze oder Kälte völlig uncultivierbar sind? 367 Allerwärts ist das Glück ihren Fahnen gefolgt, und Gott, der die Herrschaft von einer Nation auf die andere rollen lässt, steht jetzt eben bei Italien! Dass man aber dem Stärkeren weichen müsse, und dass der Sieg immer dort ist, wo die schärfere Waffe ist, das ist ein allgewaltiges, bei wilden Thieren ebenso wie bei den Menschen herrschendes Gesetz. 368 Aus diesem Grunde haben sich denn auch unsere Väter, die uns doch an geistiger wie an körperlicher Kraft und auch noch an sonstigen Hilfsquellen weit voraus waren, den Römern unterworfen. Sie hätten sich gewiss nie dazu verstanden, wenn sie nicht die sichere Ueberzeugung gehabt hätten, dass Gott auf Seite der Römer stehe. 369 Auf welche Hoffnung wollt ihr denn schließlich noch euren Widerstand bauen, da die Stadt zum größten Theil ohnehin schon erobert und die Lage der Leute drinnen, wenn auch die Mauern noch standhalten sollten, jetzt schon eine traurigere ist, als sie es durch eine Erstürmung je werden könnte? 370 Ich meine die in der Stadt bereits herrschende Hungersnoth,
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/412&oldid=- (Version vom 1.8.2018)