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Tolstoj war ihr Gott, und Schewtschenko[1] kannte sie fast auswendig. Träge wie ihr Volk, empfand sie nicht viel Bedürfnis nach Arbeit, und in ihrer Lebensweise glich sie jenen exotischen Pflanzen in den Treibhäusern, die von den Stürmen außer ihrer Umgebung nur träumen. Und sie hatte viel zusammengeträumt.

Ihre Phantasie entfaltete sich zu einer Blüte, auf deren Kosten alle anderen Triebe erstickten und nie an das Sonnenlicht gelangten. Obwohl gefühlvoll bis zur Krankhaftigkeit, verspottete sie ein bloßes „Züchten von Gefühlen und Gedanken“.

Über alles liebte sie die Natur.

Sie streifte im Gebirge umher, ohne Begleitung oder Waffe, wie ein Mann. Die ganze gebirgige Umgegend der kleinen Stadt, in der sie lebte, war ihr bekannt wie ihr Gemach, und eine der schönsten und wildesten Partien bildete den ganzen Sommer hindurch das Ziel ihrer Spaziergänge.

Ihr von Natur aus kraftvoll angelegtes Wesen verlangte mehr als „Zimmerschönheit“ und ein ruhiges, verweichlichtes Leben. Instinktiv fühlte sie das Dasein der Stürme, und es gab Momente, in denen sich

  1. Kleinrussischer Volksdichter.
Empfohlene Zitierweise:
Olga Kobylanska: Kleinrussische Novellen. J. C. C. Bruns’ Verlag, Minden i. Westf. [1901], Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:KobyljanskaKleinrussischeNovellen.pdf/40&oldid=- (Version vom 13.9.2022)