möchte. Dazu kommt die Industrie mit ihren verheerenden Wirkungen, mit ihrem betäubenden Lärm und ihren giftigen Gasen und Abwässern. Freilich kann der Mensch nicht seine Kultur und Industrie der Tier- und Pflanzenwelt zuliebe zurückschrauben, kann nicht seiner eigenen Weiterentwicklung in die Arme fallen, aber trotzdem soll und darf er nie vergessen, daß er zwar das unbestreitbare Recht hat, seine Mitgeschöpfe zu seinem Vorteil zu zehnten, daß er aber mit diesem Recht zugleich auch die heilige, sittliche Pflicht übernommen hat, das harmonische Ganze in der Natur, den Kosmos, wie es der große Humboldt nannte, möglichst unversehrt zu erhalten, soweit es sich irgend mit seinen Kulturinteressen vereinigen läßt, und wenn auch letztere den größten Teil des auf der Erde verfügbaren Raumes in Anspruch werden nehmen müssen, so soll doch auch ein gewisser Teil dieses Raumes dem freien Schalten urwüchsiger Natur vorbehalten bleiben.
Unsere Zeit hat manche neuen Werte moralischer und ästhetischer Art geprägt, die sich rasch entwickelt haben und zu ungeahnter Mächtigkeit gediehen sind. So ist es auch mit der Naturschutzbewegung gegangen. Immer häufiger werden glücklicherweise diejenigen Menschen, die ihre Erholung abseits der großen Straße suchen, die darnach trachten, wieder in innigere Fühlung zur Allmutter Natur zu kommen, immer häufiger diejenigen, die lieber neben einer murmelnden Quelle im Waldesdickicht dem Vogelsang lauschen, als im Automobil über staubige Chausseen zu rasen, oder, vom Kellner des Internationalen Hotels geweckt, von einer mit Reklameschriften bedeckten Felswand aus den bis dahin nie gesehenen Sonnenaufgang anzustaunen, oder für das Aufziehen eines künstlichen Wasserfalls ein Eintrittsgeld zu bezahlen. Und es war auch höchste Zeit, daß in dieser Beziehung eine Änderung eintrat. Der Ruf „Zurück zur Natur“ erschallt immer mächtiger, und immer gewaltiger wird die Sehnsucht, die uns unwiderstehlich zurückzieht zur Allmutter und ihren Geschöpfen. Und die Liebe zur Natur ist ja aufs innigste verknüpft mit der Liebe zum Vaterland. Nur diejenigen, die Verständnis haben für die Eigenart der heimischen Natur, werden auch die richtige heiße Liebe zur heimischen Scholle empfinden. Deshalb haben Völker mit lebhaftem Naturempfinden immer Größeres geleistet, wie z. B. jetzt die Japaner, oder sie haben auch die schwersten Schicksalsschläge mit zäher Widerstandskraft ertragen und sich, wie Antaeus, immer neu gestärkt von der heimischen Scholle erhoben, wie z. B. die Slaven, während Völker, denen der Zusammenhang mit der heimischen Natur verloren gegangen ist, in unaufhaltsamem Niedergange begriffen sind, wie z. B. die Spanier[.] Deshalb kann es auch nur der innigste Wunsch jedes Vaterlandsfreundes sein, daß uns Deutschen die von alters her tief eingewurzelte Liebe zur heimischen Natur über dem Hasten und Drängen der Gegenwart nach materiellem Gewinn nicht verloren gehen möge; denn das wäre der Anfang vom Ende. Und darum ist die Naturschutzbewegung, insbesondere die Schaffung von Naturschutzreservaten, nicht nur eine edle, echt menschliche, sondern auch eine ungemein patriotische Tat, die deshalb die wärmste Förderung durch die Behörden verdient. Die Amerikaner werden von uns angeblichen Idealisten so oft als allzu praktisch verschrien; nun, daß sie wirklich praktisch im besten Sinne des Worts sind, das haben sie vor allem durch die Schaffung ihres großartigen Nationalparkes bewiesen. Der praktische, sonst so sehr auf Gewinn bedachte Amerikaner wußte recht wohl, was er tat, als er diesem Unternehmen Millionen und Abermillionen zum Opfer brachte, wußte recht wohl, daß ein Kapital im Interesse des Vaterlandes überhaupt nicht besser angelegt werden könne, als auf diese Weise.
Auch in Deutschland beginnt eine andere Auffassung des Naturschutzes sich durchzusetzen. Vorgeschrittene Geister haben das Nützlichkeitsprinzip als völlig ungenügend verworfen. Wir wollen z. B. einen Vogel nicht deshalb schützen, weil er vielleicht schädliche Insekten vertilgt, sondern wir wollen den Vogel schützen um des Vogels selbst willen, weil er in seiner Art ein herrliches Geschöpf ist, ein Dichtergedanke gewissermaßen der schaffenden Natur, weil ohne die anmutigen Bewegungen, die bunten Farben und die lieblichen Gesänge unserer Vögel unsere Wälder und Fluren unendlich öde, tot und traurig erscheinen würden. Und ist es nicht ein unsäglich kleinlicher Standpunkt, beim Anblick des im blauen Äther um starre Felszacken schwebenden Adlers gleich an den Junghasen oder das Rebhuhn zu denken, das er vielleich[t] im Magen haben könnte, statt sich rückhaltslos an dem ästhetischen Hochgenuß dieser herrlichen poetischen Erscheinung zu erfreuen? Deshalb trachtet die moderne Naturschutzbewegung, alle Geschöpfe nach Möglichkeit zu erhalten, ganz besonders auch diejenigen, die durch unsere Kultur schon dem Aussterben nahe gebracht worden sind, gleichviel, ob sie dieser
Kurt Floericke: Umschau über die Naturschutzbewegung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde, Bd. 6, Heft 4, Franckh’sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kurt_Floericke_Umschau_%C3%BCber_die_Naturschutzbewegung.pdf/4&oldid=- (Version vom 12.12.2022)