Natürlichkeit und Unbefangenheit das Süße, das unbedingt Gesittete und Musterhafte erscheint.
Im Jahre 1866 unternahm Oehmichen, wie es damals nach absolviertem Studium der allgemeine akademische Brauch war, seine Romfahrt. Bei seiner nunmehr bereits erklärten Vorliebe und Anlage für die kleinen gemütlichen Stoffe der Heimat konnte ihn diese Reise in seiner Entwickelung nicht fördern, sondern im Gegenteil nur aufhalten, wie dies vielen jungen Künstlern in seiner Lage geschehen ist. Allerdings genoß er freudig das köstliche, sonnige Land und machte auch viele Studien, von denen er aber nur den geringsten Teil verwertete – er malte die übliche Familie aus der Campagna, das Grab der heiligen Cäcilia in den Calixtkatakomben und die mit Staffage versehene Kanzel in St. Lorenzo (als Farbendruck in „Deutsche Kunst in Bild und Lied“ 1871 erschienen), – aber die Kunst der Charakteristik gedieh ihm da nicht, und inzwischen hatte er versäumt, das ihm durch sein Naturell zugewiesene Darstellungsgebiet in Besitz zu nehmen.
Im Sommer 1867 nach Dresden zurückgekehrt, malte Oehmichen Porträts und arbeitete daneben an einem Gemälde „Der erste Kirchgang nach der Genesung“, der sich keineswegs in Italien, sondern in einem deutschen Dorfe ereignet. Dieses Bild, welches der Dresdner Kunstverein erwarb (gewonnen von dem Fabrikbesitzer Eckardt in Großenhain) und das als Holzschnitt in der Gartenlaube erschienen ist, wurde für ihn zum kritischen Ereignis. Denn Hübner, der seinem Schüler immer ein warmes Interesse gewidmet hatte, überzeugte sich vor demselben, daß es sich hier um ein in sich entschiedenes und in seiner Richtung beharrendes Talent für die Sittenmalerei handle, welche sich damals einer besonderen Pflege in Dresden nicht erfreute, und er war unbefangen genug, ihm dringend die Übersiedelung nach Düsseldorf anzuraten, wo er an Knaus und Vautier Vorbild und Stütze finden werde. Oehmichen folgte diesem Rate, ging im Herbst 1869, nachdem er noch ein Gemälde „Die Dorfschule“ in Dresden vollendet (Fabrikbesitzer Trübenbach in Dorfschellenberg, 1871 als Prämienblatt für den Kunstverein von E. Mohn in Schwarzkunst reproduciert), nach Düsseldorf und trat zu Vautier in ein nahes und dauerndes Verhältnis.
Unter Vautiers Einfluß lernte unser Künstler ziemlich bald die ihm überkommene Unfreiheit in der Komposition, sowie den ängstlichen und dünnen Farbenauftrag überwinden und nahm von dem seinem Genius entsprechenden Gebiete, nämlich der Darstellung des seelischen Lebens der unteren Gesellschaftskreise im Rahmen einfacher, von der Natur beobachteter Vorgänge
Wilhelm Loose: Lebensläufe Meißner Künstler. C. E. Klinkicht & Sohn, Meißen 1888, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lebensl%C3%A4ufe_Meissner_K%C3%BCnstler.pdf/79&oldid=- (Version vom 13.12.2024)