gleichzeitig derselben Krankheit erlegen waren, hatte Lea ein Leben ganz nach ihrem Geschmack geführt.
Trauer um den Verlust ihrer Eltern hatte sie fast gar nicht empfunden ... wozu? Es verband sie ja keine Liebe mit ihnen, und die gänzliche Freiheit kam dem jungen Mädchen wie ein Himmelsgeschenk vor.
Lea hasste jede Rücksicht, jeden Zwang. Mochte doch jeder nach seinem Gefallen leben, sofern er nur niemand etwas zu leide that.
Ihr war es gleich, wenn andere Menschen um lächerlicher Vorurteile willen ihr halbes Leben in einer Zwangsjacke verbrachten ... mochten sie doch, – sie that nicht mit.
Sie wollte frei sein, frei in jeder Beziehung, und dieser mächtige Freiheitsdrang, der am liebsten mit allem Herkömmlichen gebrochen hätte, steckte schon in dem Kinde und war durch keine noch so strenge Zwangsmassregeln gebrochen worden.
Im Gegenteil.
Die vier Jahre, die sie in einem der vornehmsten schweizer Pensionate zur sogenannten Vollendung ihrer Erziehung zugebracht hatte, liessen ihre beiden Hauptcharaktereigenschaften
Hennie Raché: 'Liebe. Roman'. G. Müller-Mann’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1901, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Liebe_(Hennie_Rach%C3%A9).djvu/35&oldid=- (Version vom 24.10.2016)