erst vollends zur Reife kommen, – – nämlich die secierendste Aufrichtigkeit gegen sich selbst und das rücksichtsloseste Durchsetzen ihres Willens, sobald sie sich etwas vorgenommen hatte oder erreichen wollte, das sie für recht hielt. Dann scheute sie eventuell kein Mittel, und die Kraft ihrer Persönlichkeit war in der That hinreissend.
Man sah ihr die grosse Energie, die sie erfüllte, gar nicht an. Ihr Gesicht trug gewöhnlich einen sanften Ausdruck, und das goldbraune Haar, welches nach antiker Art halb die Ohren verdeckte, gab ihr sogar etwas Madonnenhaftes. Nur die strahlenden blauen Augen hatten zuweilen einen zwingenden Ausdruck.
Lea erhob sich.
Es war neun Uhr, und um diese Zeit pflegte sie ihr kaltes Bad zu nehmen. Langsam steckte sie die Füsschen in die Saffianpantoffel und ging in das Badezimmer.
„Auch so eine verrückte Angewohnheit,“ hatte die Tante anfangs gemurrt, „im Winter kalt baden! Welcher vernünftige Christenmensch that das, ohne sich einen furchtbaren Schnupfen zuzuziehen?... Na, eines Tages wird sie’s schon büssen müssen!“ tröstete sich die
Hennie Raché: 'Liebe. Roman'. G. Müller-Mann’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1901, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Liebe_(Hennie_Rach%C3%A9).djvu/36&oldid=- (Version vom 25.10.2016)