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Trauerfällen des Herrscherhauses jedesmal statt der wirklichen Leiche, die eben auf dem Paradebette lag, die nächstfolgende darauf gebettet zu erblicken, mithin genau zu wissen, an Wen nun zunächst die Reihe kommen werde. Obgleich die Prinzessin, wie jene hellenische Kassandra, sich ihres prophetischen Blickes nicht freuen konnte, so versäumte sie doch nie, wenn ein Glied ihres Hauses verschieden war, in den Sarg zu schauen. Doch nannte sie, um niemandem den Lebensgenuß zu verbittern, nie das nächstfolgende Todes-Opfer, sie verschloß vielmehr das traurige Geheimniß tief im Innern. Als sie so in wehmüthiger Einsamkeit noch mehrere Verluste erlitten, mußte sie einmal, als die folgende Leiche – sich selbst erkennen. Ruhig blickte sie sich selbst als Leiche an, mit gefaßter Frömmigkeit gab sie ihren letzten Willen kund, und stark in christlicher Ergebenheit, die traurige Begabung mit in das Grab nehmend, die sich Niemand wünschen wird.




371.
Die weiße Prinzessin.

In dem gewölbten Thorwege, der auf den Rudolstädter Schloßhof führt, läßt sich zuweilen eine seltsame Gestalt sehen. Man freut sich nicht auf ihr Erscheinen, denn sie verkündet Trauriges, sowie das Gewimmer der Eulen und das picken der Todtenuhr. Zu mitternachtiger Stunde tritt durch die eiserne Thüre, die in jenem Thorwege sich befindet, eine weiße Gestalt, ohne daß eine Angel sich regt. Marmorbleich ist ihr Gesicht, schneeweiß ihr Gewand, an der rechten Hand trägt sie einen schwarzen Handschuh, Geräuschlos schwebt sie die Stufen herab; ihr Fußtritt

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/236&oldid=- (Version vom 1.8.2018)